Tag der Pressefreiheit: Medien in Europa sind frei, außer …
Am 3. Mai schaut man gern in ferne Länder. Aber auch in Europa häufen sich Angriffe auf den Journalismus.
Journalist*innen in Estland fürchten rechte Regierung
Wodurch ist die Pressefreiheit in Gefahr? Im aktuellen Ranking der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen steht Estland auf Platz 11 von 180 – noch, wahrscheinlich. Denn die Angriffe auf kritische JournalistInnen haben zugenommen. Sie gehen vor allem von der rechtspopulistischen Estnischen Konservativen Volkspartei (EKRE) aus, die seit Montag Teil der neuen Regierung Estlands ist.
Wer greift sie an? Ekre-Mitglieder attackieren seit Langem die Presse- und Meinungsfreiheit. Der Parteivorsitzende, Mart Helme, äußerte im Wahlkampf, zu viele Journalisten seien „in Wirklichkeit Propagandisten“, und forderte die Leitung von Estlands öffentlich-rechtlichem ERR auf, Ekre gegenüber kritisch eingestellte Journalisten „aus dem Verkehr zu ziehen“.
Einmal im Jahr veröffentlicht die Organisation Reporter ohne Grenzen (ROG) einen Bericht zur Pressefreiheit, dazu gehört auch die Rangliste nach Ländern. Aus Umfragen und aus Erhebungen über Gewaltangriffe generiert ROG Punktwerte, nach denen alle Länder sortiert werden. Deutschland steht gerade auf Platz 13.
Kritik an der Rangliste gibt es immer wieder, weil sich die unterschiedlichen Strategien gegen eine freie Presse eigentlich nicht in säuberliche Zahlwerte übertragen und vergleichen lassen. Wichtiger als die reine Platzierung ist die Begründung, die die Organisation dazu jeweils anführt.
Mehr über Pressefreiheit in Europa lesen Sie regelmäßig hier auf der Medienseite der taz und online: www.taz.de/PressefreiheitEuropa
Wer stellt sich dagegen? In erster Linie die JournalistInnen. Ende vergangener Woche kündigte Ahto Lobjakas, ein populärer liberaler Radiomoderator des ERR, seinen Job. Die Senderchefs hätten sich plötzlich in seine Arbeit eingemischt und ihn aufgefordert, „neutraler“ zu berichten. Lobjakas hatte kritisch über den Aufstieg der Rechten berichtet. Der Verwaltungsratsvorsitzende des ERR wies das zurück: Meinungsfreiheit und journalistische Unabhängigkeit stünden für den Sender nicht zur Disposition.
Auch Vilja Kiisler, Journalistin bei Postimees, einer der wichtigsten Tageszeitungen Estlands, kündigte, als der neue Chefredakteur ihr nach einem EKRE-kritischen Kommentar nahegelegt habe, sich „diplomatischer“ auszudrücken. Unterstützt werden die JournalistInnen von PolitikerInnen: Staatspräsidentin Kersti Kaljulaid trug zur Vereidigung der Regierung am Montag ein Sweatshirt mit dem Aufdruck „Sõna on vaba“, „Das Wort ist frei“. Reinhard Wolff
Ungeklärter Mord an Journalistin auf Malta
Wodurch ist die Pressefreiheit in Gefahr? Platz 77 auf der Weltrangliste der Pressefreiheit – kein Staat Westeuropas schneidet so schlecht ab wie Malta. Das hat auch mit seiner Wirtschaft zu tun. Malta setzt, neben Tourismus, auf zweifelhafte und korruptionsanfällige Einnahmequellen: Steuerdumping, Glücksspielwirtschaft und den Verkauf sogenannter Goldener Visa, also EU-Staatsbürgerschaften an reiche Ausländer. Der Europarat kritisierte kürzlich, dass angesichts einer „Welle von Kontroversen“ und Anschuldigungen gegen hochrangige Regierungsvertreter straf- oder disziplinarrechtliche Antworten auf sich warten ließen.
Wer greift sie an? Journalisten und Medien, die über Skandale berichten werden immer wieder wegen Verleumdung zu hohen Schadenersatzzahlungen verurteilt. „Politiker zögern nicht, wegen unliebsamer Enthüllungen vor Gericht zu ziehen“, klagt Reporter ohne Grenzen.
Wer stellt sich dagegen? Das Land ist vor allem durch den Autobomben-Mord an der Investigativjournalistin Daphne Caruana Galizia im Oktober 2017 in die Schlagzeilen geraten. Galizia hatte über Geldwäsche und Steuerhinterziehung berichtet, kurz vor ihrem Tod hatte sie zu Korruption im Umfeld des sozialdemokratischen Premierministers Joseph Muscat recherchiert. Muscat hat eine Klage wegen Verleumdung gegen Galicia auch eineinhalb Jahre nach ihrem Tod noch nicht zurückgezogen. Bis heute ist unklar, weshalb sie ermordet wurde. Drei Männer müssen sich wegen des Attentats vor Gericht verantworten. Wer ihre Hintermännern sind, ist ungeklärt. Galizias Sohn Matthew wirft den „tief korrupten Behörden“ vor, „praktisch untätig“ zu sein. Malta drohe „zu einem Hort von Kleptokraten zu werden“. Christian Jakob
Gleichschaltung, Personenkult und Hetze in Serbien
Wodurch ist die Pressefreiheit in Gefahr? Die US-amerikanische Nichtregierungsorganisation Freedom House hat Serbien im Februar 2019 als einen „eingeschränkt freien“ Staat eingestuft. Auf der Liste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen rangiert das Land auf Platz 90 von 180. Beide Organisationen stellten fest, dass die Medienfreiheit in Serbien von Jahr zu Jahr mehr eingeschränkt wird, Angriffe auf Journalisten zunehmen. Seit Aleksandar Vučić 2014 zunächst als Ministerpräsident, dann als Präsident an die Macht kam, könnten Journalisten weder auf Sicherheit noch auf den Schutz des Staats zählen.
Wer greift sie an? Die dominante Serbische Fortschrittspartei (SNS) von Staatspräsident Aleksandar Vučić hat rund achtzig Prozent der Medien gleichgeschaltet. Alle nationalen Fernsehsender und die Boulevardpresse stehen unter Kontrolle der Parteispitze. Sie werden für Hetzkampagnen gegen Andersdenkende und zur Verherrlichung des Staatschefs missbraucht. Jeglicher Journalistenkodex und die Berufsethik werden missachtet. Regimefreundliche Medien werden vom Staat gefördert, unabhängige Medien vom Werbemarkt abgeschnitten. Regierende Politiker bezeichnen kritische Journalisten als „Söldner“, „Spione“ oder „Verräter“, die für Kriminelle, Tycoons oder finstere Machtzentren mit dem Ziel arbeiten, Präsident Vučić zu entmachten und Serbien zu destabilisieren. Kritische Journalisten werden dadurch zum Freiwild erklärt.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Wer stellt sich dagegen? Einige kleinere Medien widerstehen dem Druck noch. Medienfreiheit ist eine der Forderungen der Bürgerproteste, die seit fünf Monaten in mehr als 100 serbischen Städten organisiert werden. Andrej Ivanji
Schikanen gegen den Rundfunk in Dänemark
Wodurch ist die Pressefreiheit in Gefahr? Klar, Dänemark steht auf Platz 5 auf dem „Pressefreiheitsindex“ von Reporter ohne Grenzen, Gesamtbewertung „Gut“. Die Meinungsfreiheit steht seit 1849 in der Verfassung: „Eine Zensur und andere vorbeugende Maßnahmen dürfen nie mehr eingeführt werden.“ Nein, staatliche Zensur findet in Dänemark nicht statt. Aber auch rechtliche und wirtschaftliche Bedingungen können die Pressefreiheit einschränken.
Wer greift sie an? Vor allem die rechtspopulistische Dänische Volkspartei hat sich auf das öffentlich-rechtliche Danmarks Radio eingeschossen. Eine rechte Parlamentsmehrheit beschloss im vergangenen Jahr, dessen Budget um ein Fünftel zu kürzen. Mehrere TV- und Radiokanäle müssen schließen, 400 Beschäftigte gehen. Derweil wird der populäre Public-Service-Sender Radio24syv mit regionalpolitischer Argumentation schikaniert. Die Lizenzbedingungen wurden so geändert, dass die Zentralredaktion und 70 Prozent der RedakteurInnen künftig mindestens 110 Kilometer von der Hauptstadt entfernt arbeiten müssen. Damit fällt die dänische Hauptinsel Sjælland, auf der Kopenhagen liegt und auf der 40 Prozent der dänischen Bevölkerung lebt, weg. Die Senderleitung sieht sich nun gezwungen, den Betrieb einzustellen.
Wer stellt sich dagegen? Natürlich die Betroffenen selbst und deren Gewerkschaften. Aber auch die Parteien links der Mitte, Medienwissenschaft und -öffentlichkeit protestieren gegen jeden neuen Anlauf, „mit der Dänischen Volkspartei als Leithund (…) das freie Wort zu knebeln“ – so das liberale Ekstrabladet. Letztendlich entscheiden Parlamentsmehrheiten. In spätestens sechs Wochen wird in Dänemark gewählt. Eine linke Mehrheit zeichnet sich ab. Reinhard Wolff
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Abschluss G20-Gipfel in Brasilien
Der Westen hat nicht mehr so viel zu melden
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen