Täter im Lügde-Prozess geständig: Unter aller Augen

Missbrauch, Vergewaltigung, Produktion von Kinderpornos – was in Lügde geschah, ist kaum fassbar. Drei Angeklagte stehen nun vor Gericht.

Wohnwagen auf dem Campingplatz Lügde

Der versiegelte Campingwagen von Andreas V. Foto: dpa

LÜGDE/DETMOLD taz | Dichter Wald links, dichter Wald rechts. Dazwischen der Campingplatz Eichwald. Auf der Homepage, die das Gelände am Stadtrand von Lügde im Weserbergland bewirbt, sieht man eng an eng stehende Wohnwagen, Blockhäuser, Datschen. Es gibt einen Kinderspielplatz, Fußballrasen, gegenüber ein Schwimmbad. Ein Idyll, ideal für Dauercamper, Biker, Familien.

Jetzt ist das anders. Jetzt hängt eine gespenstische Stille über dem Platz. Am Mittwochvormittag stehen drei Autos auf dem Vorplatz, wenige Gäste, niemand ist zu sehen, irgendwo quietscht leise eine Kreissäge. Der Schlagbaum ist heruntergelassen, ein Schild warnt: „Privatgelände. Zutritt nur für angemeldete Gäste des Campingplatzes Eichwald“. Der Betreiber Frank Schäfsmeier geht nicht mehr vor die Tür, seine Frau, blonde Kurzhaarfrisur, Brille, Shorts, weist Fremde mit schneidiger Stimme ab. „Bleiben Sie zurück.“

Der Grund dafür wird seit diesem Donnerstag vor dem Landgericht Detmold verhandelt: sexuelle und körperliche Gewalt an Kindern und Jugendlichen in Hunderten Fällen, geschehen auf diesem Campingplatz in zwei alten Wohnwagen hinter maroden hölzernen Anbauten. Zwanzig Jahre lang sollen hier zwei Männer, der 56-jährige arbeitslose Andreas V. und der 34-jährige Maler und Putzmann Mario S., insgesamt 41 Kinder und Jugendliche missbraucht und misshandelt haben. Kinder sollen dazu gezwungen worden sein, andere Kinder zu missbrauchen. Einige von ihnen waren da gerade einmal vier Jahre alt. Ein Dritter, der 49-jährige Heiko V., ein Koch, soll die beiden dazu angestiftet haben. Am ersten Verhandlungstag lautet die wichtigste Frage: Werden die Angeklagten ihre Taten gestehen?

Drei Monate und zehn Verhandlungstage sind für den wohl bislang furchtbarsten Missbrauchs­prozess in der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik angesetzt. Die 3. Strafkammer unter der Vorsitzenden Richterin Anke Grudda hat 53 Zeugen geladen – darunter Opfer, Eltern, Polizisten. 30 Nebenklagen sind zugelassen worden, 19 ihrer Vertreter*innen sitzen im Gerichtssaal, neben ihnen gesetzliche Vertreter*innen minderjähriger Opfer.

16 rote Akten und ein unfassbares Verbrechen

Vor Richterin Anke Grudda auf dem Tisch liegen 16 rote Akten, dünne, dicke, sehr dicke. Neben ihr sitzen zwei weitere Richterinnen, links und rechts Schöffen, rechts im Saal noch drei Sachverständige. Einen größeren Fall hat es im Saal 165 des Detmolder Landgerichts noch nicht gegeben.

9.20 Uhr, der Prozess hat noch gar nicht richtig begonnen, da gibt es bereits die erste Aufregung. Die mutmaßlichen Täter sitzen rechts von der Richterbank neben ihren Anwälten, sie haben die Hefter, die ihre Gesichter vor den Kameras schützen sollten, heruntergenommen: Andreas V., graues Gesicht, grauer Kapuzenpullover mit der Aufschrift „Uncle Sam“, Mario S. im schwarzen T-Shirt, Heiko V. im schwarz-weiß karierten Hemd, er mit dem Rücken zum Publikum. Sie wirken ruhig und gefasst, Andreas V. schaut zu Boden.

Gerade haben sie mit nicht mehr als einem knappen „Ja“ die Angaben zu ihren Personen bestätigt, da verlangt Roman von Alvensleben – er vertritt als Anwalt der Nebenklage ein heute zehnjähriges Mädchen –, die Öffentlichkeit auszuschließen, wenn der Staatsanwalt die Anklage verliest. Sein Kollege Peter Wüller, der ein sechsjähriges Mädchen und einen neunjährigen Jungen vertritt, schließt sich an. „Mit den Daten der Kinder aus der Anklageschrift wie Geburtstag und Wohnort sind Rückschlüsse auf die Identität der Kinder möglich“, sagt Wüller: „Dann können sich die Kinder gleich ein Schild ‚Opfer‘ an die Stirn kleben.“

Selbst Johannes Salmen, Verteidiger des Hauptangeklagten Andreas V., stimmt zu, merkt allerdings kritisch an, dass Teile der Anklageschrift bereits öffentlich waren, bevor Anwälte und Verteidiger sie in den Händen hielten. Die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft Detmold, über 80 Seiten lang, listet 460-fachen Kindesmissbrauch, Vergewaltigung, körperliche Gewalt und die Produktion von kinderpornografischem Material auf. Die Akten der drei Hauptbeschuldigten zählen mehr als 3.000 Seiten, dazu kommen vier Ordner mit bereits ausgewerteten DVDs, Fotos, Festplatten und anderen Datenträgern.

Die mutmaßlichen Täter und ihre Taten

Allein Andreas V, ein arbeitsloser alleinstehender Mann, der auf dem Campingplatz in Lügde wohl etwa 30 Jahre gewohnt hatte und den dort alle nur „Addi“ nannten, wirft die Staatsanwaltschaft Detmold 298 Fälle sexueller Gewalt an Kindern vor. Er soll insgesamt 23 Mädchen missbraucht und mindestens zehn von ihnen vergewaltigt haben, meist in seinem Campingwagen und teils vor laufender Kamera. Mario S., der zweite Angeklagte und Komplize von Andreas V., hat laut Staatsanwaltschaft Gewalt an acht Mädchen und neun Jungen begangen. Insgesamt spricht die Staatsanwaltschaft von 162 Taten, darunter schwere Vergewaltigungen und die Herstellung kinderpornografischer Filme.

Mitangeklagt ist Heiko V. aus Stade in Niedersachsen. Er soll einige der Taten gefilmt und Liveübertragungen der Gewaltakte im Internet verfolgt haben. Die Polizei hat bei ihm gigantische Mengen an kinderpornografischen Dateien gefunden: rund 26.500 Bilder und etwa 10.300 Videos, insgesamt sollen es 42.000 Aufzeichnungen sein. Ein Gutachten bescheinigt Heiko V. „keine pädophile Neigung“, sagt dessen Verteidiger Jann Henrik Popkes. Das wirft Fragen auf: Wieso hat Mario V. dann die Kinderpornos besessen? Wieso hat er sich Vergewaltigungen an Kindern im Netz angesehen?

9.40 Uhr, Richterin Grudda verkündet: „Die Öffentlichkeit bleibt für die Dauer der Verlesung der Anklageschrift ausgeschlossen.“ Sie begründet das mit „schutzwürdigen Interessen der Opfer“, die durch die Details in dem Papier verletzt würden, mit „Einzelheiten der Art und Weise der sexuellen Übergriffe“, die für die Kinder und Jugendlichen mit einer „besonderen Belastung verbunden sind“. Ungewöhnlich ist das nicht, bei Jugendschutzprozessen wie diesem hier, bei dem es um Minderjährige und zum Teil sehr junge Kinder geht, ist das sogar üblich.

Später, nachdem hinter verschlossener Tür die Anklageschrift verlesen worden ist, tritt ein Opferanwalt vor die Tür des Saals 165, atmet tief durch und sagt: „So etwas Schreckliches habe ich noch nie gehört.“ Roman von Alvensleben hofft auf „umfassende Geständnisse“ aller drei Angeklagten.

Alle Beteiligten wollen den betroffenen Kindern eine Aussage vor Gericht ersparen. Die drei Richterinnen haben viele dieser Minderjährigen als Zeugen geladen. Kinder im Gerichtssaal, das versucht die Justiz so weit wie möglich zu vermeiden, insbesondere bei sexueller Gewalt. Die Opfer sollen nicht noch einmal traumatisiert werden. Doch ohne die Aussage der Mädchen und Jungen können manche Prozesse nicht zufriedenstellend geführt werden, die Richterinnen wollen und müssen auch im „Lügde-Prozess“ genau wissen, was auf dem Campingplatz geschehen ist.

Roman von Alvensleben, Nebenkläger

„So etwas Schreckliches habe ich noch nie gehört. Ich hoffe auf Geständnisse“

Den Kindern soll es so leicht wie möglich gemacht werden. Wenige Tage vor Prozessbeginn konnten sie sich den Gerichtssaal anschauen. Seine Mandantin habe das getan, versichert Alvensleben. Um den Prozess einigermaßen zu überstehen, wird sie von Psycholog*innen begleitet. Seit 2017 ist die sogenannte „psychosoziale Prozessbegleitung“ gesetzlich verankert.

Die Richterinnen können die Kinder auch in einem anderen Raum im Gerichtsgebäude befragen und die Aussagen live in den Verhandlungssaal übertragen lassen. So müssen sie ihren mutmaßlichen Peinigern nicht gegenübersitzen.

Die Geständnisse

Als sich der Verteidiger des Hauptangeklagten Andreas V., Johannes Salmen, am frühen Nachmittag zu Wort meldet, geht ein Raunen durch die Zuschauerbänke. V. selbst schweigt. Eine psychologische Begutachtung lehnt er ab. Doch Salmen legt für ihn ein „vollumfängliches“ Geständnis ab.

Mario S., der zweite Angeklagte, spricht selbst. „Wenn ich könnte, würde ich das alles rückgängig machen. Aber das kann ich nicht“, sagt er. Er fühle sich schuldig und schäme sich. In der Untersuchungshaft sei ihm klar geworden, welches Leid er den Kindern zugefügt habe. Für Richterin Grudda ist das ein „wertvolles Geständnis“.

Andreas V.s Anwalt beantragt, das Verfahren für etwa 17 Taten, die V. vorgeworfen werden, einzustellen. Als Begründung gibt er an, dass manche der Kinder Angeklagte verwechselt hätten, ihre Aussagen seien zu ungenau und unsicher, manche der Taten seien lediglich geschätzt.

Mario S., Angeklagter

„Wenn ich könnte, würde ich das alles rückgängig machen. Aber das kann ich nicht“

Ob einige Taten tatsächlich nicht in das Strafmaß miteinfließen werden, muss nun die Staatsanwaltschaft entscheiden.

Danach gesteht auch Heiko V. Sein Verteidiger Jann Henrik Popkes verliest das „Schuldbekenntnis“ von Heiko V., als die Öffentlichkeit nicht anwesend sein darf. Am frühen Morgen vor Prozessbeginn hatte er noch gesagt: „Mein Mandant will irgendwann eine neues Leben beginnen.“

Das Versagen der Behörden

Der „Fall Lügde“ beschäftigt die Menschen hier in der Gegend. Wie kann es sein, dass in der unmittelbaren Nachbarschaft so etwas Abscheuliches passieren konnte? Rudolf Pernath will den Prozess als „ganz normaler Bürger“ verfolgen, er ist extra ist aus Hameln in Niedersachsen hierher gekommen. Er will nicht nur wissen, warum die drei Männer all das getan haben. Er will auch wissen, ob Behörden geschlampt haben. Die „Causa Lügde“ trägt nicht nur die Dramatik unglaublicher sexueller und körperlicher Gewalt an Kindern in sich. Es ist auch die Geschichte eines unglaublichen Behördenversagens.

So hätte der Hauptverdächtige Andreas V. schon vor 20 Jahren gestoppt werden können – wenn die Polizei genau hingehört und Ermittlungen aufgenommen hätte. Eine Mutter machte Ende der 1990er Jahre gemeinsam mit ihrer damals vierjährigen Tochter im „Eichwald“ Urlaub. Das Mädchen sei oft bei Andreas V. zum Spielen gewesen, zusammen mit anderen Kindern. Der „Addi“, wie er auf dem Campingplatz genannt wurde, habe schon immer Kinder um sich geschart.

Mario S. (l.) und Andreas V. sitzen zwischen ihren Anwälten Foto: dpa

Eines Tages sei die Vierjährige vom Spielen zurückgekommen und soll gesagt haben: „Mama, Penis lecken schmeckt nicht.“ Die Mutter sei sofort alarmiert gewesen und habe das beim Campingplatzwart gemeldet. Der soll abweisend reagiert haben: So etwas könne er sich nicht vorstellen. Zwei Jahre später stellte die Mutter Strafanzeige gegen Andreas V. Doch die Staatsanwaltschaft Detmold verfolgte die Spur nicht.

2002 und erneut 2008 geht die Polizei in Lippe weiteren Verdächtigungen von Eltern, Andreas V. würde Kindern Gewalt antun, nicht nach. Die Polizei nimmt die Hinweise zwar auf, leitet sie aber nicht an die Staatsanwaltschaft weiter. Involviert ist aber nicht nur die Polizei, sondern auch zwei Jugendämter: das im nordrhein-westfälischen Lippe und das in Hameln-Pyrmont in Niedersachsen.

Obwohl es also bereits Vorwürfe gegen Andreas V. gab, der Mann alleinstehend war und von Sozialhilfe und Hartz IV in einem Wohnwagen lebte, wurde ihm 2016 ein Pflegekind in Obhut gegeben, ein etwa sieben Jahre altes Mädchen. Ein Unding, denn gewöhnlich werden Kinder nur in Pflegefamilien untergebracht, die ihren Lebensunterhalt selbst verdienen. Während aber die Mitarbeiter*innen des Lipper Jugendamtes es ablehnten, dem Mann das Kind zu überlassen, weil die Umstände „für das Kind gefährdend“ aussahen, sah das Jugendamt Hameln-Pyrmont in Niedersachsen das Kindeswohl nicht in Gefahr. Tjark Bartels, SPD-Landrat von Hameln-Pyrmont, wird später erklären, Andreas V. hätte ein Pflegekind niemals bekommen dürfen.

Auch gegen den 34 Jahre alten Mario S. ermittelte die Staatsanwaltschaft Paderborn bereits 2004 und 2013 wegen sexuellen Missbrauchs. Die Verfahren wurden eingestellt.

Die Schlampereien bei der Polizei

Und so geht das weiter. Nachdem im Oktober 2018 der Anzeige einer Mutter endlich nachgegangen wird und zwei Monate später der Wohnwagen kontrolliert, versiegelt und Andreas V. in Untersuchungshaft genommen wird, verschleppen sich die Ermittlungen erneut. Das Innenministerium in Nordrhein-Westfalen fragt in Lippe mehrfach nach, ob die Beamten dort Hilfe bräuchten. Sie lehnten ab, man habe alles im Griff. Später verschwindet Beweismaterial oder es wird nicht vollständig ausgewertet. Ein Behördenleiter setzt einen Kripo-Anwärter, also einen Polizei-Azubi, ein, um das Beweismaterial zu sichten. In Hameln-Pyrmont manipulieren Mitarbeiter*innen des ­Jugendamts Akten, eine Frau löscht Daten mit frühen Hinweisen auf sexuellen Missbrauch.

Ist das Schlamperei auf hohem Niveau, menschliches Totalversagen, unsensible Behördenignoranz? Oder steckt dahinter ein Fehler im System, Überlastung, unklare Regeln, die ein Verschulden verschiedener politischer und administrativer Akteur*innen erst möglich machen?

In Detmold wird die „Causa Lügde“ juristisch geklärt. Hier geht es nicht um Ämterversagen, sondern einzig um die Schuld der Angeklagten, macht Richterin Anke Grudde gleich zu Beginn deutlich. Für den Freitag sind Vernehmungen von vier Zeugen vorgesehen, darunter eines Kindes und einer jungen Frau, die beide zu den Opfern zählen. Die Öffentlichkeit wird ausgeschlossen bleiben.

Die politischen Folgen dürften den nordrhein-westfälischen Landtag noch über das Prozessende hinaus beschäftigen. Zwei Tage vor Prozessbeginn richten Regierungs- und Oppositionsfraktionen einen Untersuchungsausschuss ein. In Hameln-Pyrmont gibt es den schon etwas länger.

Auf dem Campingplatz „Eichwald“ in Lügde-Elbrinxen wird es vermutlich in der nächsten Zeit leer bleiben. Ein Mann, freier Oberkörper, blaue Badeshorts, wedelt mit den Händen. Er sagt: „Wann ist das vorbei?“

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