Tabubruch in Istanbul: Erdoğans Gebet in der Hagia Sophia
Türkeis Präsident inszeniert sich selbst: mit Koran auf dem neutralen Museumsboden der Hagia Sofia. Die Angst vor ihrer Rückumwandlung zur Moschee wächst.
Neben dem Vorbeter ist nur ein weiterer Mann im Kuppelsaal der einst größten christlichen Kirche anwesend, Tourismus-und Kulturminister Mehmet Ersoy, der nominelle Hausherr des Museums. Doch die beiden sind nur Staffage, denn auf einer großen Leinwand, die ihnen gegenübersteht, erscheint niemand anderes als Präsident Recep Tayyip Erdoğan und übernimmt nach einer förmlichen Einladung durch Ersoy das weitere Gebet und die anschließende Predigt.
Jede Fernsehanstalt in der Türkei ist zugeschaltet, als Erdoğan vom Ruhm der Vorfahren und der großartigen Gegenwart und Zukunft unter seinem Regime spricht. Vor der Hagia Sophia ist eine weitere gigantische Leinwand aufgebaut, die der Stadtmauer nachempfunden ist und auf der sich nun per Video die glorreiche Eroberung der Stadt durch Sultan Mehmet II. den entfaltet. Die Show beeindruckt – ebenso wie die Hagia Sophia, aus der heraus Erdoğan spricht.
Das abendliche Gebet in der Hagia Sophia ist der Höhepunkt eines Tages, der am Vormittag damit begann, dass sich Hunderttausende Gläubige in allen Teilen des Landes das erste Mal nach zweieinhalb Monaten wieder zum Freitagsgebet in den Moscheen versammelten. In Istanbul vermischt sich so der Jahrestag der Eroberung mit der Freude über die Aufhebung der langen Corona-Beschränkungen zu einem einzigen Triumph der konservativen Anhänger des Präsidenten, den Erdoğan durch die Inszenierung in der Hagia Sophia gekonnt anheizt.
Tabu- und Synthesenbruch
Denn das Gebet in der Hagia Sophia ist ein gezielter Tabubruch. Fast eintausend Jahre lang war die Kirche das Wahrzeichen von Byzanz; danach machten die Osmanen aus der Kirche eine Moschee, die wiederum zum Wahrzeichen des Imperiums der Sultane wurde. Erst nach der Gründung der türkischen Republik und der Trennung von Religion und Staat fasste der damalige Präsident Mustafa Kemal Atatürk den Entschluss, aus der vormaligen Kirche der „Göttlichen Weisheit“ und der ehemaligen Sultans-Moschee ein Museum zu machen. Ein Haus, das eine gelungene kulturelle Synthese darstellt und für jede Frau und jeden Mann zugänglich ist. Längst ist die Hagia Sophia das meistbesuchte Museums Istanbuls.
Doch den islamischen Fundamentalisten ist das Museum ein Dorn im Auge. Seit Jahrzehnten drängen sie darauf, die Hagia wieder in eine Moschee umzuwidmen. Und immer wenn Erdoğan es braucht, meistens vor Wahlen oder wenn er besonders schlecht dasteht, wie jetzt in der Wirtschaftskrise, gibt er dem Affen Zucker. Möglichst unkonkret redet er dann davon, dass die Hagia Sophia wieder zum Haus Allahs werden könnte, oder er ordnet wie gestern ein Gebet im Museum an. Das macht den Fundamentalisten Hoffnung und sorgt zuverlässig für empörte Reaktionen in Griechenland.
Denn wie die islamischen Fundis von ihrer Moschee, träumen die christlichen Fundis in Griechenland von ihrer Kirche im einstigen Konstantinopel, als Griechenland mit Byzanz im Zenit der Macht stand. Prompt erklärte gestern der griechische Vize-Verteidigungsminister Alkiviadis Stefanis zu Erdoğans Auftritt in der Hagia Sophia: „Natürlich ärgert uns das. Es berührt unsere religiösen Überzeugungen und unsere religiösen Gefühle“. Offiziell sagte die griechische Regierung, der Status der Hagia Sophia als Museum dürfe nicht verändert werden. Wird er vermutlich auch nicht, selbst wenn die Hagia Sophia wohl noch häufiger als politischer Spielball missbraucht werden wird.
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