TV-Doku über Amokläufer: Kleinstädtisch, männlich, depressiv
Warum verüben Menschen brutale Massaker? Die Doku „Ansichten eines Amokläufers“ sucht mit nach wissenschaftlichen Antworten.
Aelrun Goettes Fernsehfilm „Ein Jahr nach morgen“ aus dem Jahr 2012 ist nicht zuletzt deshalb einer der bislang besten Filme zum Thema School Shooting – zu Deutsch: Schulmassaker –, weil sie bewusst nicht erst versucht, zu erklären. Die Erlösung durch Erklärung bleibt sie einfach schuldig. Als Spielfilmregisseurin kann sie sich das leisten.
Aber wir wollen natürlich eine Erklärung. Und natürlich suchen Fachleute längst nach Erklärungen. Und natürlich ist erst mal rein gar nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Dokumentarist akribisch Fachfrau um Fachfrau, Fachmann um Fachmann besucht und nach dem Warum fragt: Warum bringen Heranwachsende erst ihre Mitschüler um und anschließend – wir lernen: statistisch in 60 Prozent aller Fälle – sich selbst? Und wenn wir das Warum erst verstanden haben: Ist es dann möglich, einen Amokläufer schon vor seiner Tat zu erkennen?
Miles O’Brien, amerikanischer Wissenschaftsjournalist, ehemals Korrespondent und Anchor bei CNN, hat besucht und gefragt – für seine TV-Dokumentation „Mind of a Rampage Killer“, die 3sat heute als „Ansichten eines Amokläufers“ zeigt. Die deutschen Ereignisse – in Freising, Coburg, Erfurt, Emsdetten, Winnenden, Ansbach – bleiben außen vor. In den USA gab es Fälle genug, um nicht über den nationalen Tellerrand hinaus schauen zu müssen.
„Die Ansichten eines Amokläufers“; Donnerstag, 16.01.2014; 20.15 Uhr; 3Sat
O’Brien besucht zwölf Experten im ganzen Land, die an so renommierten Institutionen wie der Harvard oder der Columbia University forschen. Und sie forschen bereits seit Jahrzehnten. Seit der Student an der University of Texas at Austin und frühere Marine Charles Whitman am 1. August 1966 seine Mutter und seine Frau erstach, mit einem Waffenarsenal zum Campus fuhr, dort von einem Turm aus 17 Menschen erschoss und 32 verletzte, um dann plangemäß selbst von der Polizei erschossen zu werden. In einem Abschiedsbrief hatte er ausdrücklich um seine Autopsie gebeten.
Hirnstruktur und Schubladen
Der Harvard-Wissenschaftler Joshua Buckholtz ist sich sicher: „Wenn wir Straftäter mit unbescholtenen Menschen vergleichen, lassen sich Unterschiede innerhalb der Schaltkreise jener Hirnstruktur erkennen, die den Ausgleich emotionaler Erregungszustände steuern.“ Die Rede ist von präfrontalem Cortex und Amygdala. Seine Kollegin Karlen Lyons-Ruth beobachtete jahrelang das Verhalten von Kleinkindern: Man könne vorhersagen, ob „sie gewalttätig zu ihren Klassenkameraden sein werden“.
Andere Forscher befassen sich mit versicherungsmathematischen Annahmen. Vergleicht man hinterher die Amokläufer miteinander, so scheinen sie alle in die gleiche Schublade zu passen: kleinstädtisch, männlich, waffenaffin, depressiv, gemobbt et cetera. Nur, da legt Paul Appelbaum von der Columbia den Finger in die Wunde: „Zehntausende von Menschen passen in diese Schublade.“
Nicht erkannte Anzeichen
Denn wer es ernst damit meint, einem Menschen ohne Tat das Label des – potenziellen – Amokläufers zu verpassen, öffnet die Büchse der Pandora. Die Populärkultur hat das längst durchgespielt: Philip K. Dicks / Steven Spielbergs Dystopie „Minority Report“ handelt vom Umgang einer Gesellschaft mit Mördern, die ihre Tat erst in der Zukunft begehen würden.
In Miles O’Briens Film kommen auch die Eltern von Amokläufern zu Wort. Jeff Williams’ Sohn hat mit der Waffe seines Vaters – „eine der Waffen, mit denen ich ihm das Schießen beigebracht habe“ – zwei Mitschüler erschossen. Liza Long bloggt regelmäßig über ihren Sohn als Amokläufer. Sie sagt: „Wenn ich heute zurückblicke, glaube ich, dass da schon immer Anzeichen waren.“ Allein, der Amoklauf ihres Sohnes hat noch gar nicht stattgefunden.
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