Syrische Flüchtlinge: In der Falle
Die syrische Armee hat sich aus den Kurdengebieten zurückgezogen. Immer mehr Syrer fliehen vor dem Krieg in das Gebiet der PKK. Es droht ein Hunger-Winter.
QAMISCHLI taz | Der Stacheldraht schneidet ins Fleisch. Der Zaun, der die Türkei und Syrien trennt, lässt sich herunter oder zur Seite schieben, trotzdem, irgendein Metallstachel sticht immer. „Dschalla, dschalla“ – schnell, schnell!“ Bekar Dilsar* hat sein Gesicht mit dem Kufija genannten bunten Kopftuch bedeckt. Er trägt es zum Schutz gegen den Staub, aber auch, damit man ihn nicht erkennt.
Bekar Dilsar war schon Schmuggler, als hier noch die syrische Armee die Grenze bewachte. Jetzt lauern die Kämpfer der PKK auf den verlassenen Grenztürmen. Dilsars Angst ist geblieben. Jede Sekunde könnte ein Schuss fallen.
Seine Honda liegt startklar in den Baumwollfeldern hinter dem Zaun. Drei Menschen finden in aller Eile darauf Platz. Dilsar braust querfeldein den Grenzzaun entlang, es könnten hier Minen verborgen sein. „Allah, Allah“ schreit er, dann biegt er auf die geteerte Straße ein, fünfzig Meter vom Zaun entfernt. Der Höllenritt geht weiter.
Endlich kommen die ersten Gebäude einer Siedlung in Sicht: Qamischli, die Provinzhauptstadt der Kurdenregion mit ihren 200.000 Einwohnern. Dilsar bremst scharf vor einem Haus. Er steigt ab, tritt gegen das rostige Metall des Auspuffrohrs und reißt sich die Kufija vom Kopf. Nein, es ist kein Vergnügen, in Qamischli Schmuggler zu sein.
Kurden müssen bleiben
Dilsar bringt in der Regel Menschen aus der Türkei nach Syrien. Kriegsgewinnler, die Lebensmittel und Medikamente in der Türkei kaufen und sie in Syrien teuer weiterverkaufen. Höchst selten schafft Dilsar umgekehrt reiche Syrer aus dem Land, die erforderlichen 1.000 Dollar können die meisten nicht aufbringen. Kurden aus Qamischli waren noch nie dabei. „Die haben kein Geld für die Flucht“, sagt er.
Sobald die Sonne untergeht, bricht die Dunkelheit über Qamischli herein. Mal gibt es Strom, oft auch nicht. Dann surren die altersschwachen Dieselgeneratoren, die Glühbirnen erhellen die Barbiersalons und Einkaufsläden nur schwach. Auf den Ständen vor den Schaufenstern türmen sich Granatäpfel. Das Regal des Schnapshändlers ist voll mit Jack-Daniels-Flaschen. Männer sitzen auf Klappstühlen auf dem Gehsteig und saugen an ihrer Wasserpfeife. Es sieht aus wie Frieden mitten im Krieg.
Das Rätsel der vollen Auslagen in den Schaufenstern hat etwas zu tun mit der kurdischen Arbeiterpartei PKK, die in der Türkei, aber auch im Irak, Iran und in Syrien für ein unabhängiges Kurdistan kämpft. Als im Juli der Bürgerkrieg in Syrien die großen Metropolen Aleppo und Damaskus erreichte, zogen sich die Regierungstruppen aus der Kurdenregion im Nordosten Syriens zurück. In das Machtvakuum trat die PKK, die sich in Syrien PYD (Partei der Demokratischen Union) nennt.
Sie übernahm die Kontrolle in Qamischli und Umgebung. Die Gewehre dafür bekam sie über Schmugglerpfade vom türkischen Flügel der PKK. Darüber hinaus drückte ihr die Armee Assads die Schlüssel für ihre Waffenlager in die Hand. Im Gegenzug duldet die PYD die Präsenz des syrischen Geheimdienstes und von Resten der Armee in und um Qamischli.
Das Amt für humanitäre Angelegenheit der Vereinten Nationen (Ocha) schätzt die Zahl der Binnenflüchtlinge im syrischen Bürgerkrieg auf 1,2 Millionen. Die Zahl beruht auf Angaben des syrischen Roten Halbmondes, der das Internationale Rote Kreuz in Syrien vertritt. Internationale Mitarbeiter von Hilfsorganisationen und Vereinten Nationen sind aufgrund der Sicherheitslage kaum noch im Land vertreten. Die Zahl derjenigen, die im Land dringend auf humanitäre Hilfe angewiesen sind, schätzt man auf 2,5 Millionen Menschen. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR warnt davor, dass die einheimische Bevölkerung aufgrund des Zusammenbruchs der Wirtschaft und der schwierigen Versorgung kaum noch in der Lage ist, Kriegsopfer und Flüchtlinge mitzuversorgen. Derweil sind aktuell zirka 320.000 Syrer in die Nachbarländer Irak, Türkei, Libanon und Jordanien geflohen.
Doppelspiel der Extremisten
Die PYD hat auch die Kontrolle über die Vorratslager, sagt Ferhan Chalaf* vom revolutionären Volkskomitee in Qamischli. Das Komitee organisiert in Qamischli – so wie zahlreiche Volksräte in anderen syrischen Städten – den zivilen Kampf gegen das Regime. Jeden Freitag gibt es Demonstrationen gegen das syrische Regime, an denen auch die PYD teilnimmt. Ferhan Chalaf glaubt, dass die kurdischen Extremisten ein Doppelspiel treiben. „Sie sind irgendwie für und irgendwie gegen das Regime.“ Deswegen bedeutet für ihn Widerstand auch Widerstand gegen die PYD. Auch weil diese den Kurden das Essen stehle.
„Sie holen im Moment alles aus den Vorratskammern, um den Menschen zu zeigen, dass sie die Situation unter Kontrolle haben“, sagt Chalaf. Und nicht nur das: Lastwagenweise schicke die PYD Weizen von der Vorkriegsernte nach Damaskus. Zurück käme allerdings schon seit vielen Monaten kein Treibstoff mehr. „Dieses Jahr hatten wir keinen Diesel für Traktoren und keinen Dünger. Es gibt keine Ernte, die sie uns nächstes Jahr wegnehmen können.“
Die PYD ist nicht die einzige kurdische Partei in Syrien. Das Volk mit seiner eigenen Kultur und Sprache hat unter dem Regime in Damaskus gelitten, wie alle, die sich nicht einfügen wollten in die von der Baath-Partei verordnete arabische Identität. Wer Kurdisch sprach oder das Neujahrsfest Newroz feierte, musste in Qamischli oder anderen Teilen Syriens mit Haft, Folter oder Tod rechnen. Im Jahr 2004 schlug die syrische Armee kurdische Proteste in Qamischli blutig nieder, die nach einem Fußballspiel ausbrachen.
Die PYD gelte vielen als Handlanger der syrischen Regierung, als Verräter an der kurdischen Sache, erklärt Ferhan Chalaf. Der Regimegegner sitzt unter einem Bildnis von Maschaal Tammo, der Ikone der liberalen Kurdischen Zukunftsbewegung. Tammo wurde im Oktober 2011 von maskierten Männern in seinem Haus erschossen. Anhänger der Partei vermuten ein Attentat der PYD.
Tammos Sohn Fares ist nach dem Mordanschlag in die Türkei geflüchtet und organisiert von Istanbul aus die Arbeit der Partei. Das ist kein Zufall. Denn die einzige kurdische Partei, die auch Mitglied im Zusammenschluss der syrischen Opposition, dem Syrischen Nationalkongress ist, sieht in der Türkei keinen Gegner. „Wir kämpfen nicht für ein Großkurdistan, sondern für kulturelle Selbstbestimmung aller Syrer in einem demokratischen System“, sagt Ferhan Chalaf.
Einen Ohrring versetzt
Zum Frühstück gibt es in Qamischli Fladenbrot und Tee. Familie Aferin* sitzt auf einem ausgerollten Teppich, kaut das kostbare Brot bedächtig. Plötzlich gibt es draußen einen Knall. Irgendwo in Qamischli ist eine Autobombe explodiert. „Das war nur eine ganz kleine“, sagt Cihan Aferin und nimmt einen Schluck Tee.
Der Frieden ist eben auch in Qamischli nur relativ. „Die PYD sagt, das seien Al-Qaida-Leute. So rechtfertigen sie, dass sie Leute festnehmen und an die Geheimpolizei ausliefern“, sagt Aferin. Doch verschwänden merkwürdigerweise immer nur kurdische Aktivisten, die jeder in Qamischli kennt. „Sie haben noch nie einen gefangen mit Bart.“
Dilan Aferin knetet den Kichererbsenteig für die Falafel. Heute ist ein Festtag, weil Besuch von jenseits der Grenze da ist. Sie will auftischen, was die Vorräte hergeben: Oliven, grüne Paprika, Ayran und knusprig gebackene Falafel. In der vergangenen Woche hat sie einen Ohrring von ihrem Hochzeitsschmuck verkauft. Davon hat Dilan Aferin Essen gekauft. Ihr Mann Cihan hat zwar eine Tischlerei. Doch Nachschub an Holz oder Werkzeug gibt es seit vielen Monaten nicht mehr.
Cihan hat seit einem Jahr kein Einkommen mehr, aber eine Familie, die essen will, und Kinder, die krank werden. Viel Geld verdient hat er noch nie in dieser armen Ecke Syriens. Es gab nichts zum Ansparen für noch schlechtere Zeiten. Deshalb verkauft Dilan Aferin jetzt Schmuckstücke, immer dann, wenn das Vorratsregal oder der Arzneimittelschrank leer sind.
„Wir tauschen, was wir brauchen. Die Reicheren kaufen sich Essen von ihren Ersparnissen. Die Wirtschaft funktioniert nicht mehr, fast niemand verdient noch Geld“, erklärt Dilan Aferin. Dabei explodieren die Preise. Denn das Wenige, was in den Vorratskammern lagert oder über die Grenze hereingeschmuggelt wird, müssen sich die Kurden mit den Kriegsflüchtlingen aus allen Teilen Syriens teilen.
Die Preise explodieren
Sie strömen nach Qamischli, Hunderte jeden Tag. Reis kostet inzwischen schon 90 Lira. Vor dem Krieg waren es 25 Lira. Der Preis für Eier hat sich verfünffacht, Öl ist sechs Mal teurer als noch vor einem Jahr. Was wird Dilan Aferin machen, wenn ihre Schmuckschatulle leer ist? „Dann ist der Krieg vorbei. Oder die Amerikaner sind da. Oder wir verhungern“, sagt sie und schüttelt den Kopf. Der zweite Hochzeitsohrring klimpert einsam an ihrem rechten Ohrläppchen.
Im Stadtzentrum schiebt Doktor Fersa Esran* das Metallgitter vor dem Schaufenster ihrer Apotheke hoch. Die Kranken bräuchten ihre Medikamente, sagt sie, Bombe hin, Bombe her. Die Frau mit dem weißen Apothekerkittel steht verloren vor den gelichteten Regalen. Babynahrung und Windeln gibt es keine mehr, Antibiotika und Schmerzmittel sind knapp.
Vor einem Monat kam die letzte Ladung Medikamente nach Qamischli. Dann wurde die pharmazeutische Fabrik bei Homs bombardiert, die Qamischli belieferte. Von dem wenigen, was in den Regalen liegt, zwackt Fersa Esran noch etwas für die Untergrundkliniken ab, die es in Qamischli wie überall im Land gibt. „Anästhetika und Morphin bekommt man nur in der Klinik der PYD. Wir brauchen dringend Hilfe von außen.“
Esrans sorgenvoller Blick ruht auf dem Regal, in dem das Verbandsmaterial liegen sollte. Der Flüchtlingsstrom aus Damaskus, Aleppo, Homs und anderen vom Krieg verwüsteten Städten reißt nicht ab. Die Syrer wissen, dass Qamischli die einzige Großstadt Syriens ist, in der nicht gekämpft wird. Das reicht ihnen im Moment völlig aus. Sie begreifen nicht, dass die Kurdenregion einer Falle gleicht. Denn sie ist abgeschnitten von der Versorgung, und die Grenzen zur Türkei und zum Irak sind dicht und gut bewacht von der PYD. Wer in Qamischli ankommt, für den gibt es kein Weiter. Es sei denn über die Schmugglerpfade und durch die Minenfelder an der Grenze – für die wenigen, die das Geld dafür haben.
Es gibt aber auch kein Zurück. Denn im Westen, Süden und Osten wird gekämpft. Es gibt Flüchtlinge, die bei ihren kurdischen Verwandten untergekommen sind. Andere haben nur ihr nacktes Leben gerettet. Sie leben in Flüchtlingslagern in ehemaligen Schulen, streng bewacht von der PYD. Wie viele es tatsächlich sind, darüber gibt es nur Schätzungen. 50.000 in einer Stadt von 200.000 Einwohnern, diese Zahl wird von oppositionellen Politikern und Untergrundärzten häufig genannt. Sicher ist nur eines: Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge in Qamischli an.
* Alle Namen geändert
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Elon Musk torpediert Haushaltseinigung
Schützt die Demokratien vor den Superreichen!
Pro und Contra Letzte Generation
Ist die Letzte Generation gescheitert?
Fragestunde mit Wladimir Putin
Ein Krieg aus Langeweile?
Studie zum Tempolimit
Es könnte so einfach sein
BSW-Chefin im ZDF
Wagenknecht macht BND für Irrtum verantwortlich