Syrische Flüchtlinge in der Türkei: Neue Heimat Istanbul
Für Zehntausende ist die Türkei nur eine Zwischenstation auf dem Weg nach Europa. Manche aber bleiben und wagen den Neuanfang.
Das „Pages“ befindet sich in einem sorgsam restaurierten Holzhaus, das in einer Sackgasse nahe dem Platz zwischen windschiefen, halb verfallenen Holzhäusern dunkelgrün leuchtet. Die Buchhandlung ist ein Treffpunkt für junge Kulturschaffende und Aktivisten. Die meisten Besucher sind wie Samer Alkadri Syrer.
Unter den mehr als 3.000 Titeln, die seine Buchhandlung führt, finden sich ins Arabische übersetzte Klassiker der Weltliteratur wie George Orwells „1984“ oder Gabriel Garcia Marquez’„Hundert Jahre Einsamkeit“. Besonders gefragt ist der autobiografische Roman „Die Muschel“, in dem Mustafa Khalifa die Qualen und Erniedrigungen in einem berüchtigten syrischen Gefängnis literarisch verarbeitet hat.
Wem das Geld für den Kauf der Bücher fehlt, kann sie gegen eine kleine Gebühr ausleihen oder hier lesen, wie die beiden jungen Männer, die in einer Ecke vornüber gebeugt an einem niedrigen Tisch sitzen und sich eifrig Notizen machen.
Künstler und Verleger
„Es gibt so viele Talente“, sagt Alkadri. „Man muss ihnen nur eine Chance geben.“ Aber diese Chance in Istanbul zu finden, ist für junge Syrer, die kein Türkisch können und um das tägliche Überleben kämpfen müssen, nicht leicht. Deshalb stellen sich auch im „Pages“ viele die Frage, die fast alle Syrer umtreibt, die in die Türkei geflohen sind: Weiterziehen in Richtung Europa oder bleiben?
Die Antwort auf die Frage ist seit dem Abkommen zwischen Brüssel und Ankara noch drängender geworden. Die EU hat der Türkei sechs Milliarden Euro Hilfe zur Unterstützung der Flüchtlinge und Visafreiheit für türkische Staatsbürger in Aussicht gestellt, damit sie gegen Schlepperbanden vorgeht und ihre Westgrenze dicht macht. Nato-Kriegsschiffe überwachen die Seeroute zwischen der Türkei und Griechenland, um den regen Verkehr der Schlepperboote zu unterbinden.
Mohammed Rihawi aus Aleppo
Allein im Januar und Februar 2016 hatten mehr als 120.000 Menschen die Überfahrt gewagt. Doch seit die Umsetzung des Deals am 20. März begonnen hat, ist die Zahl derer, die es nach Griechenland schaffen, drastisch zurückgegangen. Gleichzeitig werden Flüchtlinge aus Griechenland zurück in die Türkei deportiert. Trotzdem versuchen es täglich Dutzende weiter.
Arbeit, Bildung und die Aussicht auf Einbürgerung nach ein paar Jahren nennt Alkadri als die wichtigsten Motive seiner Landsleute für die Flucht nach Europa. Er sei sich sicher, dass mindestens ein Fünftel der Syrer in die Türkei zurückkehren werde, wenn ihnen die türkische Regierung das garantiere. Für sich selbst hat der 42-Jährige die Frage entschieden. „Ich habe mich in Istanbul verliebt – das Meer, die kleinen Straßen, die Menschen.“
Die dritte Flucht
Für den Maler, Grafiker und Verleger, der mit seinen halblangen Haaren und den Bändchen am Arm auch in einem der trendigen Istanbuler Szenelokale zu Hause sein könnte, ist es bereits die dritte Flucht. Er war acht Jahre alt, als das syrische Regime in seiner Geburtsstadt Hama einen Aufstand der Muslimbrüder niederschlug und große Teile der Stadt dem Erdboden gleichmachte.
Die Familie floh nach Damaskus, wo Alkadri Kunst und Grafikdesign studierte und später einen Verlag gründete. Dann kam der Aufstand. Alkadri war gerade auf einer Buchmesse im Ausland, als ihn im Sommer 2012 sein Vater anrief und ihm sagte, der Geheimdienst sei in seinem Büro aufgetaucht. „Ich wusste, was das bedeutet.“
Gemeinsam mit seiner Frau, einer bekannten Kinderbuchillustratorin, und den beiden Töchtern zog er nach Amman. Langweilig, nennt er die jordanische Hauptstadt. Ein Jahr hielt er es dort aus, dann zog er an den Bosporus, vor zehn Monaten machte er dann das „Pages“ auf. Im obersten Stock gibt es einen Raum nur für Kinder, wo sie lesen, malen und spielen können. „Wenn ich schon im Exil leben muss, dann hier“, sagt Alkadri. „Istanbul ist eine Mischung aus Damaskus und dem Westen. Du kannst hier zur Moschee gehen, aber auch Alkohol trinken, wenn dir danach ist.“
Syrer gelten als fleißig
Im Gegensatz zu Alkadri würde Abdul Malik aus dem ostsyrischen Hasaka viel dafür geben, könnte er nach Europa. Doch sein Vater will nicht. Der alte Mann ist fromm und hat Angst, seine beiden Töchter könnten von westlichen Sitten verdorben werden. Und so bleibt Abdul Malik nichts anderes übrig, als zwölf Stunden für umgerechnet weniger als 20 Euro am Tag und das sieben Tage die Woche zu schuften. In einem billigen Kebabrestaurant serviert er das Essen und räumt die Teller ab. Wenn er krank ist, bekommt er keinen Lohn. Trotzdem nennt Malik seinen Chef einen „guten Patron“, weil dieser ihn im Krankheitsfall nicht gleich feuert und ihn noch nie gedemütigt hat.
Abdul Malikis prekäre Lage könnte sich ändern, wenn das kürzlich verabschiedete Gesetz über Arbeitsbewilligungen umgesetzt wird. Dann könnten Arbeitgeber Syrer ganz legal beschäftigen, müssten sie versichern und könnten sie nicht von einem Tag auf den anderen vor die Tür setzen.
In Aksaray, wo sich das Billiglokal befindet, schuften viele Syrer unter Bedingungen wie Abdul Malik. „Die Syrer sind fleißig und arbeiten hart“, sagt Abdullah Bugrahan. Der Uigure ist selbst Flüchtling. Vor 18 Jahren kam er aus China nach Istanbul, zum Studium. „Die Türkei ist zwar nicht perfekt, aber sie ist trotzdem viel freier als China.“ Deshalb ist er geblieben, mittlerweile hat er die türkische Staatsbürgerschaft angenommen und eine Familie gegründet.
„Sie sind unsere Gäste“
Bugrahan hat sich emporgearbeitet. Neben zwei Import- und Exportfirmen betreibt er seit ein paar Monaten an der großen Ausfallstraße von Aksaray ein Lokal für uigurische Spezialitäten. „Ich habe Türken ein Drittel mehr als den gesetzlichen Mindestlohn geboten. Trotzdem habe ich niemanden gefunden.“Jetzt beschäftigt er zwei Syrer in der Küche. „Die Türken sind faul. Es gibt genug Arbeit, aber sie hocken lieber in Cafés herum und erwarten, dass sich die Regierung um sie kümmert.“
Obwohl der Uigure die Syrer in höchsten Tönen lobt, hofft er, dass sie die Türkei bald wieder verlassen. „Sie sind unsere Gäste, und als Muslime müssen wir uns um sie kümmern“, sagt er. „Aber ich hoffe, dass der Krieg bald zu Ende ist und sie nach Hause zurückkehren können.“ Wie Bugrahan denken viele Türken. Dass sich ihr Wunsch so bald erfüllt, ist eher unwahrscheinlich.
In den engen Straßen nahe der Metrostation von Aksaray sieht man sie: die Syrer, die sich mit Rucksäcken, Taschen und kleinen Kindern im Arm bereithalten für die riskante Weiterfahrt Richtung Europa. Andere aber haben sich dafür entschieden, in eine Zukunft hier, in der Türkei zu investieren. Rund um die Metrostation eröffneten in den letzten Jahren viele syrische Läden und Restaurants, die mit zweisprachigen arabisch-türkischen Reklametafeln um Kundschaft werben.
Geschäfte von Syrern für Syrer
In einer Nebenstraße hat Mohammed Rihawi vor Kurzem einen kleinen Supermarkt eröffnet. Vor eineinhalb Jahren waren er und seine Familie aus Aleppo geflohen, weil sie nicht mehr wussten, wie sie überleben sollten. „Unser Haus lag an der Frontlinie, auf der einen Seite kämpfte das Regime, auf der anderen die Freie Syrische Armee. Als ich mit meinem Bruder und seinem achtjährigen Sohn rausging, um nach Essen zu suchen, schossen sie auf uns“, erzählt der hagere 41-Jährige. „Ein Kind sollte so etwas nicht erleben. Da sind wir gegangen.“
Ein halbes Jahr lang lebte die Familie von den Ersparnissen ihres Brautmodengeschäfts daheim in Aleppo. Rihawi überlegte, ob er sich dem Treck nach Deutschland, wo inzwischen zahlreiche Freunde und Verwandte lebten, anschließen sollte. „Zum Glück ist nichts daraus geworden“, sagt er im Rückblick. „Inzwischen bereuen es viele. Sie waren blauäugig, haben geglaubt, dass in Deutschland Milch und Honig fließt. Hier ist es hart, aber der Lebensstil und die Kultur sind ähnlich wie bei uns.“
Und so beschloss Rihawi, sein Geld nicht in die Flucht, sondern in einen Laden in einer Shopping-Mall zu investieren. Nach einem halben Jahr musste er wieder schließen. Wieder stand er ganz am Anfang und überlegte, was er tun soll. „Es war deprimierend. Aber war soll man tun? So ist das Leben eben. Man darf nicht aufgeben.“
Rihawi gab nicht auf. Als ihm ein Bekannter von dem Laden in Aksaray erzählte, schlug er zu. Das Sortiment ist auf die syrische Kundschaft ausgerichtet: Gewürze, Kaffee, Seifen, Papiertücher, fast alles kommt entweder direkt aus Syrien oder wird von syrischen Firmen in der Türkei produziert. Nur das Gemüse stammt von türkischen Bauern. „Ja, ich habe Geld verloren. Aber es geht aufwärts, von Tag zu Tag“, sagt Rihawi. „Unsere Wohnung hier ist nicht so schön und groß wie unser Haus in Aleppo, aber es geht uns gut. Was will man mehr?“
Sehnsucht nach Damaskus
Im „Pages“ packt ein Musiker seine Gitarre aus und stimmt ein populäres Lied an, das die Schönheit von Damaskus besingt. Spontan gesellt sich eine junge Frau zu ihm und stimmt mit heller Stimme in das Lied ein. Leise lächelnd blickt ihnen Alkadri zu. „Istanbul ist mir zur zweiten Heimat geworden“, sagt er. „Aber sobald das Regime gestürzt ist, kehre ich zurück.“
Das sollten wir unbedingt schreiben, sagt er mit Nachdruck: nicht wenn der Krieg vorbei, sondern das Regime gestürzt ist. In drei Stunden sei er zu Hause, so lange wie es mit dem Taxi vom Platz an der berühmten Chorakirche zum Flughafen und von dort mit dem Flugzeug nach Damaskus dauert. „Istanbul ist schön. Nur Damaskus ist noch schöner.“
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