Sunak wird britischer Premier: Ohne Wahlkampf an die Macht
Nun ist klar: Rishi Sunak wird Parteivorsitzender der britischen Konservativen – und damit Premier. Er übernimmt einen politischen Scherbenhaufen.
Der Nachfolger von Liz Truss als Premierminister des Vereinigten Königreichs ist damit bestimmt worden, ohne dass irgendjemand tatsächlich eine Stimme gab oder er selbst ein Wort gesagt hat. Sein wichtigster Gegenkandidat Boris Johnson, erst am Samstag aus der Karibik zurückgekehrt, um den Kampf um das Premierministeramt aufzunehmen, hatte am späten Sonntagabend seinen Verzicht erklärt, ohne überhaupt offiziell angetreten zu sein.
Seine einzige offiziell angetretene Gegenkandidatin Penny Mordaunt zog sich am Montag um 13.59 Uhr aus dem Rennen zurück, wortwörtlich in allerletzter Minute vor Ablauf der Kandidatenfrist um 14 Uhr. Damit war alles klar. Einen richtigen Wahlkampf hat es nicht einmal innerhalb der Fraktion gegeben. Eine Abstimmung durch die Parteibasis erübrigt sich sowieso.
Am Ende hatte Sunak 202 Unterstützer in der 357 Abgeordneten starken konservativen Unterhausfraktion auf sich vereint – nicht nur viel mehr als die nötige Mindestzahl von 100, sondern eine klare Mehrheit der Fraktion insgesamt. Johnson hingegen war selbst nach eigenen, unbestätigten Angaben nicht über 102 hinausgekommen. Die Aussicht, selbst bei einem Sieg unter den Parteimitgliedern gegen die eigene Parlamentsfraktion regieren zu müssen und so zum Scheitern verurteilt zu sein, zwang Johnson zum Rückzug. Mordaunt kam nie über 30 bestätigte Unterstützer hinaus.
Finanzpolitische Kehrtwenden unter Truss
Formal ist Sunak jetzt lediglich als Parteichef der Konservativen gewählt, nicht als britischer Regierungschef. Die Kür des Premierministers steht nicht in der Macht einer einzelnen Partei, auch nicht in der des Parlaments. Liz Truss, die am vergangenen Donnerstag ihren Rücktritt erklärt hatte, wird voraussichtlich am Dienstag zum Königspalast fahren und ihr Amt niederlegen. Charles III. wird dann, wie es die Regeln vorsehen, den Chef der größten im Parlament vertretenen Partei anrufen – also Rishi Sunak – und ihn bitten, eine Regierung zu bilden.
Rishi Sunak, der Verlierer vom September, übernimmt im Oktober das Amt in ungleich schwierigeren Zeiten, denn die beiden abrupten finanzpolitischen Kehrtwenden seiner kurzlebigen Vorgängerin Liz Truss haben das Vertrauen der Finanzmärkte in die Verlässlichkeit der britischen Politik und das Vertrauen der Bevölkerung in die Kompetenz ihrer Regierenden schwer erschüttert.
Im verzweifelten Versuch, ihre Regierung zu retten, hatte Truss zuletzt den prominentesten noch politisch aktiven Vertreter der alten Austeritätsregierung von David Cameron aus der politischen Versenkung geholt und zum Finanzminister gemacht, obwohl er keine Erfahrung auf dem Gebiet hatte: Jeremy Hunt stoppte umgehend fast das gesamte Truss-Programm und kündigte nicht nur Steuererhöhungen an, sondern auch Einsparungen „bis zur Schmerzgrenze“. Die will er am kommenden Montag – zufällig Halloween – bei der Präsentation seiner mittelfristigen Finanzplanung im Unterhaus vorstellen.
Unter Wirtschaftsexperten mehren sich mittlerweile Warnungen vor einem zu abrupten und scharfen Sparkurs. Sunak hat als Premierminister immerhin sowohl die Erfahrung als auch die Statur, den zur Selbstüberschätzung neigenden Jeremy Hunt in die Schranken zu weisen – sofern er ihn überhaupt im Amt belässt.
Viele Fragezeichen
Was der nächste Premierminister insgesamt politisch plant, bleibt allerdings ein Rätsel, denn mangels Wahlkampf musste er dazu bisher nichts sagen. Im Wahlkampf gegen Truss im Sommer drehte sich die Diskussion fast ausschließlich um Wirtschaftspolitik.
Vor allem in der Außen- und Verteidigungspolitik ist Sunak ein unbeschriebenes Blatt, was so manchen Beobachtern Sorgen bereitet, die um die britische Führungsrolle bei der Unterstützung der Ukraine bangen. So hatte Verteidigungsminister Ben Wallace zuletzt Boris Johnsons Rückkehr favorisiert, weil Sunak sich nicht auf steigende Verteidigungsausgaben festlegen wollte, wie sie unter Johnson geplant worden waren.
Sunak kann sich zwar kaum leisten, Wallace nicht in seinem Amt zu behalten – er ist der beliebteste Politiker der Konservativen. Aber sollte Sunak den Verteidigungshaushalt kürzen und Wallace dann, wie er gedroht hat, zurücktreten, wäre dies ein schwerer Schlag für die neue Regierung gleich zu Beginn.
Aufschluss über seine Pläne dürfte Sunak dann geben, wenn er das Amt des Premierministers übernommen hat und die übliche Rede vor der schwarzen Tür von 10 Downing Street hält. Am Montagnachmittag beschränkte er sich auf einen Auftritt hinter verschlossenen Türen vor der konservativen Parlamentsfraktion, gefolgt von einem sehr kurzen öffentlichen Statement. „Wir stehen vor einer tiefgreifenden wirtschaftlichen Herausforderung. Wir brauchen jetzt Stabilität und Einheit“, sagte er und versprach „Integrität und Bescheidenheit“.
Manche Hindus feiern
Die Hürde zum Erfolg in 10 Downing Street und zur Befriedung einer tief zerstrittenen Partei ist nach mehreren turbulenten Jahren jedenfalls in allen Bereichen sehr hoch. Catherine Haddon vom renommierten Institute for Government formuliert die Herausforderungen kompakt in fünf Fragen: „Kann der neue Premierminister ein beständiges und einiges Kabinett ernennen? Einen glaubwürdigen Wirtschafts- und Steuerplan entwerfen? Eine kohärente politische Agenda entwerfen? Einen funktionierenden Amtssitz leiten? Lernen, wie man mit konservativen Abgeordneten im Parlament umgeht?“ An diesen Fragen waren Sunaks Vorgänger gescheitert. Von seinen Antworten hängt jetzt Großbritanniens Zukunft ab.
Freude und Stolz herrscht bei Großbritanniens zahlreichen indischen Hindus. Einer der Ihren wird als nächster Premierminister verkündet – ausgerechnet am Tag des Hindu-Lichterfestes Diwali, gleichbedeutend mit dem Neujahrstag. Der einflussreiche indische Publizist Sudhir Chaudhary jubelt auf Twitter: „Nachdem es uns 200 Jahre regiert hat, wird Großbritannien nun von einem Hindu-Premierminister regiert.“
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