Südkorea in der Coronakrise: Musterschüler vor Zerreißprobe
Südkorea zeigt die Fragilität des neuen Normalzustands: Christliche Coronaleugner sind für hohe Infektionszahlen verantwortlich – wieder einmal.
![Person in Schutzanzug mit Desinfektionsgerät in leerem Kirchsaal. Person in Schutzanzug mit Desinfektionsgerät in leerem Kirchsaal.](https://taz.de/picture/4329008/14/korea-kirche-1.jpeg)
Dabei verunglimpfte der 63-jährige Evangelikale den Staatspräsidenten Moon Jae In als „nordkoreanischen Spion“, beschimpfte dessen Regierung als „kommunistisch“ und verbreitete krude Corona-Verschwörungstheorien.
Zwei Tage später hat sich Jun selbst mit dem Virus angesteckt – genau wie bislang 568 Mitglieder seiner Gemeinde. Noch im Notarztwagen sieht man den Pastor, wie er seinen Mundschutz demonstrativ unterm Kinn trägt.
Zu Recht gilt Südkorea als Coronamusterschüler. Kaum ein Land hat die Pandemie derart rasch unter Kontrolle bekommen: Mit aggressivem „Contact Tracing“ und strikter Maskenpflicht konnten die Koreaner bereits mehrere große Infektionswellen abwenden – ohne weder einen Lockdown verhängt noch seine Grenzen vollständig geschlossen zu haben.
Die Furcht vorm exponenziellen Wachstum
Die täglichen Ansteckungen haben sich bei einer Bevölkerungsgröße von 51 Millionen im niedrigen zweistelligen Bereich eingependelt, bislang sind nur knapp mehr als 300 Menschen an dem Virus gestorben.
Nun jedoch stehe das Land vor dem Abgrund, wenn man den Regierungsbeamten in Seoul zuhört: „Wir betrachten die derzeitige Situation als Anfangsstadium einer flächendeckenden Übertragung“, sagte Jung Eun Kyeong, die Leiterin der koreanischen Behörde zur Seuchenprävention, während einer Pressekonferenz am Montag.
Wenn die derzeitige Verbreitung nicht kontrolliert werden könne, dann müsse man mit einem exponenziellen Wachstum der Infektionszahlen und infolgedessen Kollaps des Gesundheitssystems rechnen.
Auch Kwon Jun Wook, Leiter des nationalen Gesundheitsinstituts, nahm kein Blatt vorm Mund: Der Ausbruch in der „Sarang Jeil“-Kirche bringe das Land an den Rand der größten Krise seit Beginn des Corona-Ausbruchs, die möglicherweise im dicht besiedelten Großraum Seoul mit seinen 26 Millionen Einwohnern zu „leidvollen Szenen wie in den USA oder europäischen Ländern“ führen würde.
Die Zahlen selbst geben noch keinen Grund zur Panik: Seit einigen Tagen jedoch liegen sie so hoch wie seit Anfang März nicht mehr, am Mittwoch waren es zuletzt 297 Neuinfektionen.
Die Behörden sind nervös
Doch wer die beengten Wohnverhältnisse in Südkoreas Hauptstadt kennt, kann die Nervosität der Behörden nachvollziehen. Zumal Monate voll harter epidemiologischer Maßnahmen nun innerhalb weniger Tage zunichte gemacht wurden.
„Wir erwarten hohe Infektionszahlen für die nächste Zeit. Die Situation ist ernst“, sagte Präsident Moon Jae In am Sonntag.
Vor allem hätte die Situation verhindert werden können: Die erste Coronawelle hatte sich nämlich Ende Februar ebenfalls in Gotteshäusern ausgebreitet, damals innerhalb der mysteriösen Shincheonji-Sekte.
Damals soll der 88-jährige Gründer Lee Man Hee – mittlerweile in Haft – seinen Anhängern angeordnet haben, nicht mit den Behörden zu kooperieren. Über 5.000 Infektionen gingen auf die Sekte zurück. Zu der Zeit war Südkorea sogar das nach China am zweitschwersten vom Virus betroffene Land.
Manche Kirchengemeinden wollen nicht hören
Doch haben einige christliche Gemeinden offenbar noch immer nicht aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt. Trotz mehrfacher Bitten des Präsidenten rufen sie weiterhin zu Großdemonstrationen auf. Sie lassen ihre Gemeindemitglieder ohne die vorgesehenen Abstandsmaßnahmen und Masken zusammen Gottesdienst feiern, gemeinsam singen und Mahlzeiten einnehmen.
Auch bei der Spurensuche nach neuen Infizierten blockieren die christlichen Coronaleugner die Arbeit der Behörden: Laut der Polizei in Seoul wurden zwar bereits 3.275 der rund 4.000 Mitglieder der „Sarang Jeil“-Kirche auf das Virus getestet. Doch 404 Kirchgänger seien derzeit untergetaucht und unauffindbar.
Bislang hatten die Gemeinden für ihren Widerstand wenig Konsequenzen erleiden müssen.Das hat vor allem einen Grund: Die großen Megakirchen Südkoreas mit teilweise mehreren zehntausenden Anhängern üben vor allem unter konservativen Kreisen einen immensen politischen Einfluss aus. Die christliche Wählerbasis zu verschrecken kann sich kein Präsident erlauben.
Regierung verordnet wieder harte Restriktionen
Nun jedoch geht das fahrlässige Verhalten einer einzelnen Gruppe gegen das Wohl der Allgemeinheit, wie Premierminister Chung Se Kyung am Dienstag vor der Presse erklärte: Die Fußballstadien, deren Zuschauerränge bereits zu 30 Prozent gefüllt werden durften, müssen jetzt wieder ohne Publikum auskommen. Schulklassen müssen ihre Klassengröße mindern und notfalls auf Onlinelearning ausweichen. Und vor allem: Kirchen dürfen Gottesdienste jetzt nur noch streng ohne Körperkontakt abhalten.
Ob sich jedoch auch alle Gemeinden daran halten werden, darf stark bezweifelt werden.
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