Studieren in Corona-Zeiten: Mensa ohne Menschen
Das Studium findet derzeit kaum an der Uni statt, die Studierenden sitzen die meiste Zeit zu Hause. Wie kommen sie damit klar?
An der Universität Hamburg finden im zweiten Semester in Folge alle Vorlesungen und Seminare digital statt, lediglich Labor- und Schulpraktika können in Präsenz abgehalten werden. Nach der Ankündigung, dass das Semester erneut online stattfindet, erhielt das Präsidium der Universität prompt einen offenen Brief, unterschrieben von 30 Dozent*innen.
Sie fordern, die eigentlich als Präsenz geplanten Veranstaltungen im Wintersemester stattfinden zu lassen. Man habe in den letzten Monaten viel Arbeit in die Erstellung von Hygienekonzepten investiert.
Nach Meinung des Präsidiums ist die Kritik allerdings unberechtigt. Die aktuelle Hamburger Eindämmungsverordnung schreibe vor, Veranstaltungen nur in Präsenz stattfinden zu lassen, wenn es „zwingend erforderlich“ sei – und das sei eben nur bei Labor- und Schulpraktika der Fall.
Präsenzlehre nur im Ausnahmefall
Auch die Leibniz-Universität Hannover und die Leuphana-Universität Lüneburg haben ihre Veranstaltungen auf Online-Lehre umgestellt. Auf der Website der Universität Hannover heißt es, Präsenz sei nur zulässig, wenn es ansonsten zu einer Verlängerung der Studienzeit käme. Ausschlaggebend in Lüneburg ist, ob eine Veranstaltung in Präsenz aus „didaktischen Gründen unabdingbar notwendig ist“. Alle anderen Lehrveranstaltungen müssten – teils auch entgegen der Planung – ausschließlich online stattfinden.
Die Technische Universität und die Hochschule für Angewandte Wissenschaften in Hamburg lassen das Wintersemester hingegen wie geplant hybrid stattfinden. Vor allem Veranstaltungen für Erstsemester und Seminare in kleinen Gruppen wolle man in Präsenz ermöglichen. Dafür mietet die Hochschule Kinosäle in den Zeise-Kinos im Hamburger Stadtteil Ottensen an.
Auch die Universität Bremen hält am geplanten Hybrid-Semester fest. Die Christian-Albrechts-Universität zu Kiel teilt auf ihrer Webseite mit, dass man das Semester zwar vorrangig digital durchführe, die „notwendigen Präsenzformate für praktische Lehreinheiten“ aber wie geplant anbiete. Bis vor einer Woche fanden auch Veranstaltungen für Erstsemesterstudierende vor Ort statt. Aufgrund der neuen Landesverordnung müssten diese nun allerdings ebenfalls digital abgehalten werden.
Als die Coronamaßnahmen kurz vor dem Sommersemester 2020 eingeführt wurden, mussten die Universitäten ihren Lehrbetrieb sehr kurzfristig auf digital umstellen – und das war leider oftmals spürbar. In einer Umfrage der Universität Hamburg zum vergangenen Semester geben nur etwas mehr als die Hälfte der befragten Student*innen an, mit der digitalen Lehre gut zurechtzukommen. Nur sechs Prozent der befragten Dozent*innen konnten Vorerfahrungen mit reiner Online-Lehre aufweisen.
Kaum Interaktion, kein Feedback
Einige Seminare an der Uni Hamburg wurden abgehalten wie Vorlesungen: Frontalunterricht, kaum Interaktion, kein Feedback. Wenn das zwei Semester so läuft, ist ein Drittel des gesamten Bachelor-Studiums vorbei.
Hinzu kommt, dass viele Studierende alte Laptops oder sogar nur Tablets besitzen. In ländlichen Gegenden gibt es zudem oft keine stabile Internetverbindung. Zwar besteht keine Anwesenheitspflicht in den Online-Seminaren, doch das Abspielen einer aufgenommenen Veranstaltung ersetzt nicht die aktive Teilnahme. Und wie soll jemand ein Fach wie Politikwissenschaft studieren, wenn er nicht mit anderen Studierenden diskutiert?
Gleichzeitig ist es für Student*innen naturwissenschaftlicher Studiengänge oft eine Katastrophe, wenn die Laborpraktika nur digital stattfinden. Zwar können Studierende auf diese Weise die Versuchsdurchführung beobachten, aber sie lernen nicht, Experimente selbst durchführen.
Werden die Labor doch geöffnet, wie in einigen Fällen an der Uni Hamburg geschehen, ergeben sich unter Umständen paradiesische Zustände: Forschungsgruppen bestehen teilweise nur aus einer Person, die Betreuung ist dann natürlich optimal.
40 Prozent verlieren Nebenjob
Trotzdem geben knapp 77 Prozent der Studierenden bei der Umfrage der Universität Hamburg an, dass sich die Kontaktbeschränkungen negativ auf ihre Arbeits- und Leistungsfähigkeit ausgewirkt haben. Dazu kommt, dass viele Studierende nebenbei arbeiten müssen, um ihr Studium zu finanzieren. Dem Deutschen Studentenwerk zufolge haben gut zwei Drittel der Student*innen einen Nebenjob. 40 Prozent von ihnen haben ihn während der Krise verloren.
Und so stellt für viele nicht einmal das Studium die größte Herausforderung dar, sondern wie sie über die Runden kommen.
Mehr dazu lesen Sie in der gedruckten taz am wochenende oder hier
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin