Studie zu Ganztagsbetreuung: 100.000 Fachkräfte fehlen bis 2030
Nicht alle Bundesländer werden den Rechtsanspruch für Ganztagsbetreuung an Grundschulen umsetzen können. Die Bertelsmann Stiftung warnt.
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Vor allem in Westdeutschland lasse sich der Rechtsanspruch nur mit einem „deutlich erhöhten Angebot an Fachkräften“ einführen, warnen die Autor:innen. Dafür aber müsste die Ausbildung massiv hochgefahren werden. Aktuell nehmen in den westdeutschen Bundesländern nur 47 Prozent der Grundschüler:innen ein Ganztagsangebot und 18 Prozent im Übermittagsangebot bis 14:30 Uhr wahr. Sollte im Jahr 2030 jedes Kind eine volle Betreuung beanspruchen, wären dafür über eine halbe Million neuer Plätze und 76.000 zusätzliche Fachkräfte erforderlich.
In den ostdeutschen Bundesländern, wo die Teilnahmequote am Ganztag mit durchschnittlich 83 Prozent deutlich höher liegt, könnten im Jahr 2030 zwar alle Kinder betreut werden – allerdings nur mit mauen Betreuungsschlüsseln. Aktuell kümmert sich eine Fachkraft an ostdeutschen Horten im Schnitt um 14 Kinder – im Westen sind es 6. Auch bei der Relation von Grundschullehrer:innen zu Schüler:innen steht der Osten schlechter da. Wollen die entsprechenden Bundesländer ihren Personalschlüssel an den im Westen angleichen, wären allein dafür 26.000 zusätzliche Fachkräfte erforderlich.
Aus Sicht vieler Bildungsminister:innen ist das Wunschdenken. „Sicherlich wünschen wir uns alle eine optimale Betreuung für unsere Kinder. Aber es muss in der Realität umsetzbar sein“, sagte etwa Sachsens Kultusminister Christian Piwarz (CDU) am Dienstag zu den Forderungen der Bertelsmann Stiftung. Um auf den Personalschlüssel 1:6 zu kommen, müsste sein Bundesland 13.750 neue Erzieher:innen allein im Hort anstellen – Personal, das es laut Piwarz „auf dem Arbeitsmarkt leider nicht“ gebe. Die Bildungschancen der Kinder könnten nicht allein am Betreuungsschlüssel festgemacht werden, so Piwarz.
Nur drei Bundesländer ohne Personalmangel
Laut der Bertelsmann-Studie können im Jahr 2030 lediglich drei Bundesländer allen Grundschüler:innen eine gute Ganztagsförderung bei gleichbleibenden oder verbessertem Personalschlüssel anbieten: Hamburg, Berlin und Thüringen. „Das heißt aber nicht, dass in den drei Ländern schon alles gut ist“, sagt Anette Stein, Direktorin im Programm Bildung und Next Generation der Bertelsmann Stiftung der taz.
So fehlten im Hamburg und Berlin ausreichend Fachkräfte für kindgerechte Personalschlüssel in den Kitas, in Thüringen sollte die Personalausstattung für den schulischen Ganztag an den westdeutschen Schnitt angepasst werden. Auch in den anderen östlichen Bundesländern gilt es, die Personalausstattung im Ganztag zu verbessern und hierfür auch die gesetzlichen Grundlagen anzupassen.
Im schlimmsten Fall könnten in den Ländern ausgebildete Fachkräfte dort nicht für eine bessere Ganztagsförderung eingesetzt werden, warnt Stein: „Wenn die Landesregierung keine verbindliche Personalausstattung vorschreibt, bekommen die Träger Personalkosten für Verbesserungen nicht refinanziert“.
Tatsächlich fordern Träger wie Diakonie und andere Wohlfahrtsverbände schon lange bundeseinheitliche Standards – wie sie für Kitas bereits bestehen. Ein unerklärliches Versäumnis, findet auch Stein: „Mich überrascht, dass ein Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung eingeführt wird, ohne die Standards für die Personalausstattung gleich mitzudefinieren“. Das betreffe nicht nur den Personalschlüssel, sondern auch die Qualifikation des Personals. Die Folge: Personalausstattung und -bezahlung gleichen bei der Ganztagsbetreuung selbst innerhalb vieler Bundesländer einem Flickenteppich.
Dauerproblem Personal
Die Folge: Personalausstattung und -bezahlung gleichen bei der Ganztagsbetreuung selbst innerhalb vieler Bundesländer einem Flickenteppich. Anja Bensinger-Stolze, GEW-Vorstandsmitglied für den Organisationsbereich Schule, kritisiert, dass die Länder diese Daten bislang noch nicht mal erheben: „Es ist unglaublich, dass wir bundesweit keinen empirischen Überblick haben, welche Berufsgruppen überhaupt derzeit im Ganztag beschäftigt und inwieweit diese prekär beschäftigt sind.“ Bensinger-Stolze nimmt den Bund in die Pflicht, qualitative Rahmenbedingungen zu setzen.
Im vergangenen September haben Bund und Länder den Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung in der Grundschule beschlossen. Ab dem Schuljahr 2026/2027 greift die Regelung bei Kindern der 1. Klasse, ab 2029/2030 bei allen Klassen. Der Bund zahlt den Ländern für den Ausbau bis zu 3,5 Milliarden Euro.
Bildungsforscher:innen sehen jedoch weniger beim Geld das Problem – als im Personal. Gerade erst hat der Nationale Bildungsbericht vor einem erheblichen Fachkräftemangel im Bildungssystem gewarnt. Demnach fehlen bis 2025 allein in den Kitas 72.500 Fachkräfte. Trotz der Anstrengungen von Bund und Ländern, mehr Erzieher:innen auszubilden. Durch den Rechtsanspruch im Ganztag wird der Mangel in der frühkindlichen Bildung noch verschärft.
Anette Stein von der Bertelsmann Stiftung fordert deshalb, den Beruf attraktiver zu machen: „Wir wissen aus dem System Kita, dass viele den Beruf wählen, weil sie gerne mit Kindern arbeiten, ihn aber wegen der hohen Arbeitsbelastung wieder verlassen“. Die Verbesserung der Rahmenbedingungen sei deshalb zentral. Also bessere Bezahlung, höhere Personalschlüssel, bessere Entwicklungs- und Aufstiegsmöglichkeiten für Kita-Angestellte.
Stein erinnert auch an das Ursprungsversprechen der Ganztagsschule: die Chancenungleichheit im Land abzubauen. Wie wenig es die Ganztagsangebote jedoch schaffen, die sozialen Unterschiede abzufedern, hat vor kurzem erst Bildungsforscher Kai Maaz angeprangert. Anette Stein wundert das nicht: „Kita und auch Ganztag können schwerlich die unterschiedlichen Startchancen kompensieren, wenn die Mitarbeiter:innen aufgrund der schlechten Personalausstattung kaum auf die Bedürfnisse einzelner Kinder eingehen können“.
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