Studie des WJC zu Antisemitismus: Nicht die Zeit zum Überraschtsein
Eine Studie zeigt, was wir alle längst wissen sollten: Die deutsche Gesellschaft hat ein großes Problem mit Antisemitismus.
27 Prozent der Deutschen vertreten antisemitische Ansichten. Also sind Juden gegenüber ablehnend eingestellt, glauben, dass Juden zu viel Macht haben und dass der Holocaust ein Mythos oder stark übertrieben dargestellt wird oder sind Menschen, die mit Neonazis sympathisieren. 41 Prozent der Deutschen denken auch, dass Juden zu viel über den Holocaust reden. Das sind Ergebnisse einer aktuellen repräsentativen Studie des Jüdischen Weltkongresses (WJC), in Auftrag gegeben vom Präsidenten Ronald S. Lauder. Dafür wurden 1.300 Menschen telefonisch und online befragt.
Die Ergebnisse sind ein furchtbares Zeichen für unsere Gesellschaft, doch in keiner Form überraschend. Als Stephan B. am 9. Oktober versuchte die Synagoge in Halle zu stürmen und anschließend zwei Menschen tötete, lag die Erhebung des WJC grade einmal zwei Monate zurück. Ein Terroranschlag und antisemitisches Gedankengut sind nicht gleichzusetzen, doch sie entspringen dem gleichen Denken: Schnell können aus Gedanken, Beleidigungen werden, dann Gewalt und schließlich Terror.
Die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer bezeichnete den antisemitischen Terroranschlag als „Alarmzeichen“, für Bundespräsident Frank Walter-Steinmeier schien er „unvorstellbar“ und auch sonst zeigten sich viele überrascht. Die Reaktionen zeigen, wie wenig Bewusstsein es dafür gibt, wie tief Antisemitismus in unserer Gesellschaft verankert ist. Da hilft auch kein Geschocktsein mit folgenlosem „Nie wieder“. Stattdessen braucht es offene Augen und Ohren und entschlossenes Handeln von Politik und Justiz gegen Rechtsextremismus.
Statt Minderheiten gegeneinander auszuspielen, wie es bei der Debatte um den vorgeblich „von Muslimen nach Deutschland importierten Antisemitismus“ getan wird, muss der Kampf gegen Antisemitismus Hand in Hand mit der Bekämpfung anderer Formen von Diskriminierung gehen.
Denn auch gegenüber anderen religiösen und ethnischen Minderheiten pflegen die Deutschen laut der WJC-Studie ablehnende Haltungen: So haben 53 Prozent der Befragten eine negative Einstellung zu Muslimen, 48 zu Migranten und 64 Prozent teilen antiziganistische Einstellungen. Wer das Tagesgeschehen verfolgt, den dürften auch diese Zahlen nicht überraschen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Stromversorgung im Krieg
Ukraine will Atomkraft um das Dreifache ausbauen
+++ Nachrichten im Ukraine-Krieg +++
Biden genehmigt Lieferung von Antipersonenminen
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja