Stromausfälle in der Ukraine: Kochen nachts um drei
Bei häufigen Blackouts wegen der russischen Angriffe müssen die Ukrainer*innen ihren Lebensrhythmus umstellen. Bei Eiseskälte.
Es herrscht eine leichte Panik und vieles wirkt wie in den ersten Kriegstagen im Februar. Ältere Menschen, die sich an Geschichten aus dem Zweiten Weltkrieg erinnern, versorgen sich eilig mit Brot. In den Supermärkten kommt es zu Hamsterkäufe: Kerzen, Batterien, Akkus und Kabel.
Tankstellen werden zu Lebensmittelpunkten. Alle gehen dorthin, um Kraftstoff und Generatoren zu kaufen, oder auch nur, um einen Kaffee zu trinken. In Kyjiw wurde ein Mädchen zu einer Tankstelle gebracht, um dort den von ihr benötigten Inhalator an das Stromnetz anzuschließen.
Die Regierung hat sich auf Stromausfälle vorbereitet. Innerhalb weniger Stunden öffneten im Land mehrere Hundert sogenannter „Punkte der Unbesiegbarkeit“. Schon dieser Name spricht Bände. In der Ukraine verstehen die Menschen, warum sie kein Licht haben und wer es ausgeschaltet hat.
Arbeiten, wenn es Strom gibt
Eine solche Wärmestube ist in der Regel ein Zelt des Rettungsdienstes. Hier läuft ein Generator, man kann ein warmes Getränk bekommen, technische Geräte aufladen, sich unterhalten und nachrichtlich auf den neuesten Stand bringen. An einigen Punkten ist es möglich, über Starlink ins Internet zu kommen. Auch hier sind die Warteschlangen lang.
Und doch geht es irgendwie weiter. Auch im Dunkeln und ohne Internet floriert der Handel. Lampen werden an Generatoren angeschlossen, manchmal direkt an Batterien in den Verkaufsräumen.
Kund*innen hasten zwischen den Kabeln hindurch. Kassierer*innen akzeptieren normalerweise nur Bargeld, aber es ist auch möglich, mit Karte zu bezahlen und Geld per elektronischer Zahlung zu überweisen. Das Finanzsystem hält stand. Die meisten Banken haben die Gebühren für das Abheben von Bargeld von den Konten anderer Geldinstitute abgeschafft. Die Nationalbank hat sogar die Abhebungslimits an Geldautomaten erhöht, da manchmal nur ein Fünftel von ihnen funktioniert.
Im Oktober, und damit nach den ersten russischen Angriffen auf den Energiesektor, ist den Ukrainer*innen klar, dass sie sich an den neuen Lebensrhythmus anpassen müssen. Das heißt: arbeiten und Dinge zu Hause erledigen, wenn es Strom gibt. Manch eine/r kocht um drei Uhr nachts Borschtsch, wischt Böden oder hängt Wäsche auf. Das Geräusch eines Staubsaugers oder Mixers mitten in der Nacht ist heutzutage normal. Oft bleiben dafür nur eine oder zwei Stunden, da Energietechniker auf Notabschaltungen zurückgreifen müssen. Doch niemand jammert oder protestiert. Die Menschen denken an die Soldaten, die in den Schützengräben frieren und die Front halten.
Die Situation als Krankheit
„Das ist ein Krieg des Imperiums des Bösen und der jahrhundertealten Dunkelheit gegen die Energieinfrastruktur der Ukraine. All dies ist sehr symbolisch. Zukünftigen Historikern, die sich mit der Periode des Blackouts beschäftigen, wird das wie eine Art Metapher und Allegorie vorkommen. Wie aus einem Märchen von Kornei Tschukowski (russischer bzw. sowjetischer Dichter sowie Autor und Übersetzer zahlreicher Kinderbücher, 1882 -1969, Anm. d. Red.) über ein dummes Krokodil, das die Sonne verschluckt hat“, sagt der Ex-Abgeordnete und Blogger Witali Tschepinoga.
Aber ein bisschen Humor muss auch sein. Swetlana Boschko, eine freiwillige Helferin in Kyjiw, verrät, wie man „Kaffee auf Kyjiwer Art“ kocht. Er wird mangels Strom und Gasherd mit Trockenbrennstoff zubereitet. „Drehen Sie den Kochtopf um und geben Sie eine Brennstofftablette hinein. Gießen Sie Trinkwasser in ein Mokkakännchen und halten Sie es über den angezündeten Brennstoff. Nach zwei bis drei Minuten sollte das Wasser kochen, dann fügen Sie nach Belieben gemahlenen Kaffee hinzu. Der Geruch von Kaffee vermischt sich mit dem ungewöhnlichen Geruch von verbranntem Brennstoff. Sie können eine Prise Zimt, Kardamom oder Vanille beimengen.
„Kaffee auf Kyjiwer Art“ sollte stark sein, wie der Charakter der Menschen in Kyjiw. Er hat den bitteren Nachgeschmack unserer Ängste und den brennenden Geschmack unseres Willens zum Sieg. Am besten trinkt man ihn, während man in den Himmel schaut, auch wenn der Himmel mit Rauch von den jüngsten Raketenangriffen bedeckt ist. Vor dem ersten Schluck sollte man die richtige Botschaft ans Universum senden.“
Der Freiwillige Anton Senenko, im richtigen Leben Wissenschaftler, ist immer wieder überrascht, dass die Unterstützung für die Armee nach wie vor hoch ist. Als er einen Platz mit Internet gefunden hatte und seine Posts sowie Messenger-Dienste überprüfte, erfuhr er, dass trotz Angriffen und Stromausfällen alles wie gewohnt weitergeht: Jemand fertigt Dickbauchöfen für die Front an und bittet darum, sie nach Bachmut zu bringen. Jemand hat drei Autos repariert, die Anton von Spendengeldern gekauft hatte. An der Grenze treffen ein Stapel warmer Kleidung und Generatoren ein.
Gefährliches Virus
„Kinder malen abends bei Kerzenlicht Bilder für die Soldaten. Elektrotechniker hantieren mit Drähten, Wasserversorger mit Ventilen. Das Land leistet Widerstand. Ich weiß nicht, was sich die Russen davon erhoffen, wenn sie die zivile Infrastruktur angreifen, aber bei ihnen läuft definitiv etwas schief“, sagt Senenko.
Der Finanzanalyst Sergei Fursa drängt darauf, die aktuelle Situation als Krankheit zu behandeln – ein vorübergehendes Problem, das es zu ertragen gilt. Das müsse auch die Einstellung zu Russland sein – ein gefährliches Virus, das besiegt werden muss. „Das passiert nicht an einem Tag. Dieses Virus nimmt dir die Kraft, kann dich töten, wenn du es nicht bekämpfst. Wenn du krank bist, gehe keine Kompromisse mit dem Virus ein und sage nicht, dass das Virus definitiv gewonnen hat. Nein, du wirst behandelt, du stärkst dein Immunsystem und dann geht es dir besser. Wir brauchen Zeit, um uns zu erholen“, schreibt Fursa.
Natürlich gibt es auch diejenigen, die die Nerven verlieren. Die Leute beginnen sich darüber zu ärgern, dass ein Teil der Straße Strom hat, während der andere fast jeden Tag abgeschaltet wird. Im Netz kursieren Verschwörungstheorien über den angeblichen Export von ukrainischem Strom nach Europa. Dies sei auch der Grund für die Ausfälle. Viele denken schon jetzt, was bei Temperaturen von minus zehn Grad und darunter sein wird. Sie frösteln …
Aus dem Russischen Barbara Oertel
Juri Konkewitsch lebt und arbeitet in Luzk. Seit dem Beginn des Krieges am 24. Februar 2022 schreibt er regelmäßig für die taz – auch gerne über Fußball
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel demoliert beduinisches Dorf
Das Ende von Umm al-Hiran
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Etgar Keret über Boykotte und Literatur
„Wir erleben gerade Dummheit, durch die Bank“
Telefonat mit Putin
Falsche Nummer
Ost-Preise nur für Wessis
Nur zu Besuch