Streiten zu Weihnachten: Nicht nur an den Feinden zweifeln
Vor Weihnachten noch schnell einen Irrtum ausräumen: Nur weil man die Leuten in der Bubble so gut versteht, gilt das nicht für alle anderen.
D iese Woche hat mich eine – sehr schlaue – Kollegin mal wieder daran erinnert, wie wenig ich von anderen Menschen verstehe. Für gewöhnlich glaube ich, das Gegenteil ist der Fall. Ich kann mich zum Beispiel ganz schlecht streiten, weder mit Freunden, noch mit Partnern, noch mit meiner Familie.
Denn was löst gemeinhin Streit aus? Der andere macht was, sagt was, denkt was, was man selbst nun wirklich nie tun, denken, sagen würde. Man versteht nicht mal, wie man darauf kommen kann: den Müll nicht mitnehmen, wenn man runtergeht (dieser andere bin meistens ich, um ehrlich zu sein), Impfen für gefährlich zu halten, nicht zu sehen, wie man sein eigenes Unglück wie ein Perpetuum mobile reproduziert und jede Hilfe in den Wind schlägt, oder ohne Punkt und Komma zu reden, ohne zu bemerken, dass auch andere am „Gespräch“ beteiligt sind.
All das – oder auch das Gegenteil – kann einen in den Wahnsinn treiben. Dann knallt’s für gewöhnlich, nicht selten an Weihnachten, wenn man mit vielen, die man liebt, zusammensitzt und eigentlich nur in Ruhe Kekse futtern und kichernd alte Fotos anschauen will. Aber dann passiert doch das eben Beschriebene. Nur dass mir dann, noch bevor ich mich richtig aufregen kann – meistens zumindest –, sehr schnell einfällt, was den, der da gerade nervt, so antreibt. Warum das für den so wichtig ist, was er da sagt und tut; und welcher Schmerz, welches unfüllbare Loch in ihm lauert. Und dann reg ich mich doch nicht auf, zumindest nicht so lange.
Und weil das bei den Leuten in meiner Bubble so gut funktioniert, denke ich in selbstherrlicher Verblendung oft, ich müsste auch Leute außerhalb meiner Bubble immerhin so weit verstehen, dass ich mich nicht allzu sehr aufregen muss. Was übrigens nicht heißt, dass man deren Verhalten dann gleich gut finden soll. Es wird halt nur weniger scary, wenn man versteht, was sie antreibt.
Ist es nur ein Schrei nach Liebe oder echte Kälte? Das habe ich mich die letzten vier Jahre immer gefragt, wenn irgendwo ein Trump-Tweet aufploppte, und ich frage es mich seit einem halben Jahr – mit fast noch größerem Grausen als bei Trump, wenn ich Corona-„Skeptiker“ mit gelbem „ungeimpft“ Stern demonstrieren sehe, die glauben, quasi in einer Diktatur zu leben.
Ja, ehrlich gesagt glaube ich oft, sie sehnen sich nach einer irgendwie gearteten Diktatur, gegen die sie mit Schaum vor dem Mund demonstrieren können. Ich glaube das aus einem einfachen Grund: Sehr wahrscheinlich haben sie dieselben Kinder- und Jugendbücher über den Aufstieg des Nationalsozialismus gelesen wie ich – und sich in kindlichem Größenwahn zurechtfantasiert, wie sie es aber, wenn sie dabei gewesen wären, verhindert hätten. Wie sie es anders gemacht hätten als ihre Großeltern.
So naiv und bescheuert das ist: In meinen wohlmeinenden Momenten denke ich, vielleicht hat dieser kindliche Größenwahn in ihnen überlebt, und deshalb faseln sie jetzt Zustände herbei, gegen die es zu rebellieren gälte (statt sich vor dem zu fürchten, was ist, eine sehr reelle Pandemie). Weil sie vielleicht glauben, das hier ist ihre letzte Chance, sich selbst zu beweisen, dass sie die besseren Deutschen sind.
Vielleicht ist das aber auch kompletter Bullshit. Vielleicht gibt’s keine gute Erklärung für manchen Wahnsinn. Dass ich so ticke, hat ja auch nur mit dem zu tun, worüber meine Schwester und ich heute noch lachen: Immer wenn wir in der Schule, im Kindergarten ein anderes Kind so richtig doof fanden, hat meine Mutter vor allem eins interessiert: wie geht’s diesem Doofling zu Hause? Hat er es schwer mit seinen Eltern und so fort – der ganze Sozialarbeitersermon.
Mit der schlauen Kollegin sprach ich also diese Woche über den Mordversuch an Nawalny und warum Putin und sein Apparat, seine „Dienste“, wirklich mit allem durchzukommen scheinen (auch wenn hier, im Fall Nawalny, natürlich nichts eindeutig bewiesen ist, klar).
„Die leben in einer ganz anderen Logik als wir“, sagte also die schlaue Kollegin, „für die dient auch ein Mord der höheren Sache, die fühlen sich umgeben von Feinden.“ Das entschuldigt jetzt natürlich nichts, schon gar keinen Mordversuch. Und es ist, das ist klar, ein extremes Beispiel. Aber es hat mich daran erinnert, wie wenig ich weiß – auch darüber, wie selbstbestimmt ich eigentlich bin in der Logik, aus der heraus ich so mache und tue. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie es ist, wenn man sich umgeben von Feinden fühlt. Und auch nicht, ob ich es könnte, wenn man mir immer erzählt hätte, dass es so ist.
Sicher, der Mensch ist nicht nur ein Füllhorn dessen, was man in ihn reingießt. Er hat, hoffentlich – auch so was wie einen freien Willen. Genau deshalb ist es aber, das habe ich diese Woche – mal wieder – gelernt, ganz gut, wenn man öfter an sich zweifelt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader