Streit um Krebsmedikamente: Sie sterben an der Erstattungshürde
Manche Krebsmittel helfen nur Patienten mit speziellen Tumoren. Wer zahlt für die Tests? Darüber streiten Ärzte mit den Krankenkassen.
BERLIN taz | Gute Nachricht für Krebskranke: Nach Jahren des Stillstands ist es Forschern nicht nur gelungen, die genetische Ausstattung bestimmter Tumore, etwa beim Brust- oder Lungenkrebs, besser zu identifizieren. Arzneimittelhersteller können jetzt auch „Behandlungsansätze für Krebserkrankungen vorstellen, bei denen es seit Jahrzehnten kaum Therapiefortschritte gab“, sagte kürzlich der Leiter der medizinischen Abteilung des Pharmariesen Roche, Stefan Frings, stellvertretend für die Branche.
Zudem hätten Wissenschaftler herausgefunden, wie sie das körpereigene Immunsystem nutzen könnten, um etwa Blasen- oder Nierenzellkrebs zu bekämpfen. Viele Patienten mit Krebs im fortgeschrittenen Stadium, deren Überleben vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen sei, hätten heute dank neuer Therapien oft noch mehrere Jahre – „bei guter Lebensqualität“, betont Frings.
Heilung freilich bringen auch die neuen Therapien mit Jahreskosten im fünf- bis sechsstelligen Bereich nicht. Und: Sie greifen längst nicht für alle Patienten einer bestimmten Krebsart, sondern oft nur für Teilgruppen. „Die Medikamente sind hoch spezialisiert. Sie können nur wirken, wenn der Tumor bestimmte molekulare Merkmale aufweist. Das muss zwingend vor Therapiebeginn untersucht werden“, erklärt der Direktor des Instituts für Pathologie an der Berliner Charité, Manfred Dietel. Andernfalls laufe man Gefahr, Patienten ein teures Medikament zu geben, das für sie wirkungslos sei.
Widersprüchlich – oder nicht geregelt
Arzneimittelbehörden in Europa und den USA schreiben deswegen in ihren Zulassungsbescheiden für derartig spezialisierte Medikamente inzwischen fest, dass sie nur unter bestimmten Voraussetzungen verordnet werden dürfen: Vorher muss eine sogenannte Companion Diagnostic durchgeführt werden. Das ist ein begleitender Test zur Bestimmung der Tumorbeschaffenheit. Je nach Komplexität und Aufwand kosten die Tests an Tumorgewebe und Blut in Deutschland zwischen 250 und 4.300 Euro. Gemessen an den Jahrestherapiekosten der Krebsmedikamente – oft 100.000 Euro und mehr pro Patient – sind die Ausgaben für die Companion Diagnostic nicht sehr hoch.
Paradoxerweise aber ist ausgerechnet die Erstattung der Tests durch die gesetzliche Krankenversicherung widersprüchlich, kompliziert oder gar nicht geregelt, was Ärzte wie Patienten verzweifeln lässt.
Für das Medikament Lynparza des Pharmaherstellers AstraZeneca zur Behandlung von fortgeschrittenem Eierstockkrebs etwa wird der vorausgehende Test – anders als das Medikament – noch nicht routinemäßig durch die gesetzliche Krankenversicherung erstattet. Im Zweifel also müssen entweder die Patientinnen oder die Ärzte fürchten, auf den Kosten für die Diagnostik, rund 4.300 Euro, sitzen zu bleiben.
Der Grund: In der Logik des deutschen Gesundheitssystems sind Arzneimittel und Tests unterschiedliche Leistungsarten. Arzneimittel müssen nach dem Gesetz unmittelbar nach ihrer Zulassung erstattet werden. Die Tests benötigen aber eine Abrechnungsposition, verankert in einem Paragrafenkompendium, dem sogenannten Einheitlichen Bewertungsmaßstab.
Die Entscheidung kann Jahre dauern
Darüber, ob die Krankenkassen die Kosten für den Test übernehmen, entscheidet für den ambulanten Sektor der Bewertungsausschuss, ein Gremium aus Vertretern von Krankenkassen und Kassenärzten.
Und das kann dauern: „Die faktische Verfahrenszeit beträgt nicht selten zwischen fünf und zehn Jahren“, klagt eine Roche-Sprecherin. Obwohl das Medikament also längst verfügbar ist, haben die Patienten oft nichts davon: sie sterben, zynisch formuliert, an der Erstattungshürde.
Im Krankenhaus ist die Situation ähnlich unbefriedigend. Dort werden Behandlungen nach sogenannten Fallpauschalen vergütet. Doch in diesen Pauschalen sind die Kosten für die molekularpathologischen Tests vielfach nicht oder nur unzureichend enthalten.
260 Krankenhäuser protestierten – vergeblich
Ein Beispiel: das Lungenkrebsmedikament Crizotinib von Pfizer. Es kann nur wirken, wenn in dem Tumor ein bestimmtes Genarrangement nachgewiesen ist. Niedergelassene Ärzte bekommen den Test mittlerweile von den Kassen vergütet – Krankenhäuser dagegen nicht: „Für Kliniken ist eine routinemäßige Abrechnung der molekularen Tests nicht möglich“, bedauert ein Sprecher von Pfizer Deutschland. Protestschreiben von mehr als 260 Krankenhäusern, unterstützt von medizinischen Fachgesellschaften, seien folgenlos geblieben.
Krebsspezialisten stellen am Freitag und Samstag in Berlin die jüngsten Forschungsergebnisse aus der Onkologie vor. Auf Einladung des Krebszentrums der Berliner Charité und der deutschen Krebsgesellschaft berichten sie von der Jahrestagung der American Society of Clinical Oncology (ASCO), die soeben in Chicago zu Ende gegangen ist. Im Mittelpunkt stehen neue Behandlungsoptionen sowie die stetig individueller werdenden Therapien von Tumoren.
Die Folgen sind fatal: „Es ist gängige Praxis, dass Lungenkliniken ihre Patienten entlassen, damit sie den Test ambulant machen lassen, weil er dort ja erstattet wird“, sagt der Pathologe Dietel. Doch gerade Schwerkranke sind diesen Herausforderungen häufig nicht gewachsen. Ein Drittel der Patienten im stationären Bereich, die von den neuen Krebstherapien profitieren könnten, scheitert nach Schätzung des Bundesverbands Deutscher Pathologen an dem Erstattungschaos – und erhält dann keine oder eine suboptimale Therapie.
Das Problem ist nicht trivial: Bereits heute werden 35 Prozent aller Tumore nach Angaben des Charité-Professors Dietel mit Molekulartests untersucht, die darüber Aufschluss geben sollen, ob bestimmte Medikamente wirken können.
In Deutschland sterben jährlich 224.000 Menschen an Krebs
Und dieser Trend sei unumkehrbar, sagt Karl Matussek, Vice President Oncology bei dem Pharmaunternehmen AstraZeneca, voraus: „In fünf bis zehn Jahren wird jedes zweite Medikament in der Onkologie mit Biomarkern arbeiten.“
Das bedeutet zugleich: Die Zahl der Patienten, die getestet werden müssen, wird zunehmen. Jährlich erkranken rund 500.000 Menschen in Deutschland neu an Krebs, rund 224.000 Menschen sterben im Jahr daran.
Die künftig zu erwartenden zusätzlichen Diagnostikkosten seien vielen Kassen ein Dorn im Auge, vermutet Gisela Kempny, Geschäftsführerin des Bundesverbands der Pathologen: „Es ist bizarr, dass ein Rechtsanspruch auf eine Medikation besteht und die Verordnung zwingend die molekularpathologische Diagnostik voraussetzt, aber sich für die Bezahlung dieser Diagnostik niemand für zuständig erklärt.“
Pathologen gehen einen ungewöhnlichen Weg
Als Ausweg bleibe Betroffenen nur, die Diagnostik zunächst selbst zu bezahlen und dann mit der Kasse um Kostenübernahme zu streiten. Doch welche Patientin mit fortgeschrittenem Eierstockkrebs hat dazu die Kraft? 19 Pathologie-Institute beschreiten deshalb einen ungewöhnlichen Weg: Um die Companion Diagnostic für Lynparza durchführen zu können, lassen die Pathologen sich von jeder Patientin unterschreiben, dass diese ihren Erstattungsanspruch gegenüber der Krankenkasse an die Pathologen abtritt. Sodann führen die Pathologen die Auseinandersetzung mit den Kassen. „30 Prozent der Fälle wurden uns bislang erstattet“, sagt Gisela Kempny. „Wir hoffen, dass auch die übrigen bezahlt werden.“
Ihre Zuversicht stützen die Pathologen auch auf ein Gutachten des Bochumer Rechtswissenschaftlers Stefan Huster im Auftrag des Deutschen Ethikrats zur Kostenübernahme für genetische Untersuchungen. Darin hieß es bereits 2012: „Wird die vorherige genetische Diagnostik bei der Zulassung des Fertigarzneimittels vorgeschrieben, führt die Zulassung für das Arzneimittel unmittelbar auch zur Zulassung der vorgeschriebenen Diagnostik.“
Der Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) versteht derweil die Aufregung nicht: Es gebe kein Problem der Kostenerstattung für die Companion Diagnostic. Schließlich existierten im Einheitlichen Bewertungsmaßstab „allgemeine diagnostische Gebührenordnungspositionen“, teils in Verbindung mit „krankheitsspezifischen Pauschalen“, schreibt eine GKV-Sprecherin der taz: „Zwingend erforderliche genetische Untersuchungen sind nach Auffassung des GKV-Spitzenverbandes auf Basis dieser Abrechnungskonzepte flächendeckend sichergestellt.“
Das stimmt nicht, entgegnen Pathologen wie Pharmahersteller. Bei den Tests, die die GKV zu erstatten bereit sei, handele es sich oft um alternative Messmethoden oder „Homebrew Assays“ – also Methoden, die das testende Labor selbst entwickle. Das aber könne Patienten schaden, warnt eine Roche-Sprecherin: „Da dies nicht die Companion Diagnostics sind, die in den Zulassungsstudien benutzt wurden, birgt dieses Vorgehen immer die Gefahr, dass die Methoden nicht dieselbe Aussagegüte wie validierte Testverfahren haben.“ Schlimmstenfalls, sagt sie, führe dies dazu, „dass Medikamente nicht verordnet werden, obwohl sie helfen könnten, oder dass das Gesundheitssystem die Arzneimittelkosten trägt, obwohl der Einsatz des Medikaments nicht angezeigt ist.“
Abrechnungsziffer soll’s immerhin schon geben
Inzwischen immerhin sind Kassen und Kassenarztvertreter verpflichtet, spätestens ein Jahr nach der Markteinführung eines neuen Medikaments eine Abrechnungsziffer für den entsprechenden Diagnostiktest im Einheitlichen Bewertungsmaßstab zu schaffen; diese Frist hat der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) unlängst gesetzlich verankern lassen. Zudem werden Companion Diagnostics ab dem 1. Juli erstmals eine eigene Erstattungsziffer erhalten.
Doch ein wirklicher Durchbruch ist das nicht: Ausgerechnet blutbasierte Begleitdiagnostika, sogenannte Liquid Biopsies, die für sehr geschwächte Krebspatienten verträglicher sind als eine Gewebe-Biopsie, sollen fortan von der Erstattung explizit ausgeschlossen werden.
Und für die Krankenhäuser und ihr Dilemma mit den Fallpauschalen ändert sich: gar nichts.
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