Streit um Kindergrundsicherung: Kein Patt auf Kosten der Armen
Die Ampelregierung muss auch Sozialpolitik können. Bei der Kindergrundsicherung sollte sie zügig einen machbaren Kompromiss finden.
D as Projekt „Elena“ ist noch in unguter Erinnerung. Mit „Elena“, dem sogenannten elektronischen Entgeltnachweis, sollte zu Zeiten der CDU/CSU-FDP-Bundesregierung die Bürokratie im Sozialsystem vermindert werden. Die Arbeitgeber mussten Daten ihrer Beschäftigten zu Entgelten, Arbeitszeiten und anderem an eine Speicherstelle melden. Damit sollten die Behörden in die Lage versetzt werden, Anträge auf Wohn-, Eltern- und Arbeitslosengeld zügiger digital zu bearbeiten.
„Elena“ scheiterte 2010 schon im ersten Jahr: Datenschützer und die Kommunen hatten protestiert, auch die Grünen waren dagegen. Jetzt steckt Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) in einem Dilemma, das Erinnerungen an „Elena“ weckt. Ihr Versprechen, die Sozialleistungen für Kinder zu erhöhen, ist mit dem Versprechen verknüpft, die Zugangswege für diese komplexen Sozialleistungen in einer neuen „Kindergrundsicherung“ zu automatisieren und zu vereinfachen. So steht es in einem Entwurf zu den Eckpunkten für die Kindergrundsicherung aus dem Hause Paus und im Koalitionsvertrag der Ampel.
Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) will die von Paus geforderten 12 Milliarden Euro nicht bewilligen. Der Kampf um eine neue Kindergrundsicherung wird also schwer werden nach einer Zeit der expansiven Staatsausgaben für Corona- und Energiehilfen. Dabei ist es jedoch legitim, nach Aufwand und Ertrag der einige Milliarden Euro teuren und langwierigen Digitalisierungsstrategie zu fragen.
Das Kindergeld, der Kinderzuschlag für erwerbstätige Familien mit kleinen Einkommen, der Kinderanteil im Bürgergeld für arme Familien: All diese Leistungen sollen in der neuen Kindergrundsicherung „gebündelt“ werden, heißt es im Eckpunkte-Entwurf und im Koalitionsvertrag. Das Versprechen einer „Bündelung“ zweier so unterschiedlicher Leistungen ist aber irreführend: Das Kindergeld ist nicht abhängig vom Einkommen der Eltern, der „Kinderzuschlag“ oder die Kinderanteile im Bürgergeld sind es schon.
Das bisherige Kindergeld soll in der Kindergrundsicherung zum „Garantiebetrag“ werden. Der Kinderanteil im Bürgergeld und der bisherige Kinderzuschlag hingegen werden zum „Zusatzbetrag“. Daraus ergeben sich laut Eckpunkte-Entwurf zwei Stufen im Antragsverfahren. In der ersten Stufe beantragen alle Eltern den „Garantiebetrag“, das heutige Kindergeld.
Durch einen automatisierten „Kindergrundsicherungscheck“ soll die Familienkasse der Bundesagentur für Arbeit dann feststellen, ob ein Anspruch auf den „Zusatzbetrag“, den heutigen Kinderzuschlag, beziehungsweise das Bürgergeld bestehen könnte. Dabei soll die Familienkasse Einkommensdaten von den Finanzämtern nutzen. Das erfordert neue Schnittstellen, neue Datenschutzregelungen. Zum Vergleich: Die Einrichtung des Datenaustauschs zwischen Rentenkasse und Finanzämtern, der bei Einführung der Grundrente ab 2021 nötig wurde, dauerte rund ein Jahr.
Es wird noch komplexer: Unterschreitet das Einkommen eine bestimmte Grenze, will man die Eltern zur Antragsstellung für den Zusatzbetrag „anregen“, heißt es im Eckpunkte-Entwurf. Im Antrag sollen die Eltern dann möglichst keine Einkommensnachsweise mehr beibringen müssen, die Familienkasse soll vielmehr bereits vorliegende Daten über Arbeitseinkommen, gegebenenfalls Unterhaltsleistungen, Elterngeld, Wohngeld, Arbeitslosengeld I bei diversen Behörden automatisch abfragen. Antragssteller:innen sollen Daten und Nachweise, die schon irgendwo bei einer Behörde lagern, nicht noch einmal angeben müssen. Ein technisch und datenschutzrechtlich sehr ehrgeiziges Ziel.
Vielleicht sollte man die aktuelle Armutsbekämpfung gar nicht zwingend mit einer so tiefgehenden Verwaltungsreform verknüpfen? Oft wird ja behauptet, dass die Mehrzahl der Berechtigten den Kinderzuschlag nicht beantragen, weil er zu kompliziert sei. Doch das stimmt so nicht. Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit hat sich der Anteil der Kinder, für die Kinderzuschlag bezogen wird, innerhalb der vergangenen vier Jahre mehr als verdreifacht auf nun rund 800.000 Kinder. Die Onlineportale der Familienkasse haben schon vieles vereinfacht.
Barbara Dribbusch ist Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: „Schattwald“, Roman (Piper, August 2016). „Können Falten Freunde sein?“ (Goldmann 2015, Taschenbuch).
Zudem würde die Bürokratie auch bei einem automatisierten Datenabgleich nicht ganz verschwinden: Antragssteller:innen müssen irgendwo ihre Wohnkosten mitteilen. Viele Extraleistungen aus dem Bildungspaket müssten weiterhin einzeln abgerechnet werden. Wenn Eltern für sich selbst Bürgergeld brauchen, müssten sie beim Jobcenter weiterhin einen Antrag stellen mit allem Drum und Dran.
Mehr Digitalisierung wäre zwar gut, die ganz große, teure Strukturreform hingegen ist fragwürdig in Zeiten, die ohnehin härter werden für das Soziale. Lindner warnt schon mal vor einem „Ausbau“ des Sozialstaates. Er befeuert damit das Narrativ, nach dem eine höhere Grundsicherung für Kinder die Eltern zur Faulheit verleiten könnte. Solche Narrative werden immer dann populär, wenn staatliche Mittel knapp sind. Sie haben mit Tatsachen wenig zu tun, wie man aus der Debatte über „faule Arbeitslose“ in Zeiten der strukturellen Massenarbeitslosigkeit vor 20 Jahren weiß.
Eine linke Sozialpolitik muss hier gegenhalten. Lisa Paus spricht im Eckpunkte-Entwurf davon, das Leistungsniveau zu erhöhen, und das muss spürbar werden. Armut bekämpft man mit Geld und mit freien Zugängen. Kinder in Grundsicherung sollten zum Beispiel unentgeltlich in Sport- und Kulturvereinen aktiv werden können.
Vor allem aber: Auch ein Finanzminister kann sich nicht vor sozialen Fragen drücken. Es bringt nichts, wenn Paus und Lindner in einem politischen Patt verharren. Die Kindergrundsicherung könnte zu einem Lackmustest für die sozialpolitische Kompetenz der Ampel werden.
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