Streit über AKW-Laufzeiten: Neues von der Scheindebatte
Eine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke wäre laut Experten wenig lukrativ. Nach Druck aus der Opposition wollen die Grünen das trotzdem prüfen.
Allerdings wäre die Gaseinsparung dadurch minimal, wie zwei Studien belegen: Berechnungen des Instituts Enervis zeigen, dass eine Laufzeitverlängerung der verbliebenen Atommeiler den deutschen Gasverbrauch im Jahr 2023 um etwa 12 Terawattstunden oder gerade 1,2 Prozent reduzieren würde. Simulationen von Energy Brainpool kamen sogar auf maximal 8,7 Terawattstunden, weil die Reaktoren vor allem die Stromerzeugung aus Braun- und Steinkohle verdrängen würden. Zudem würden die Stromexporte erhöht.
Die Stromexporte sind ein wichtiger Aspekt der Betrachtung, denn diese sind nach wie vor erheblich. Deutschland exportierte 2022 bisher mehr Strom, als die Atomkraftwerke hierzulande im gleichen Zeitraum erzeugten.
Das liegt auch daran, dass Frankreich auf Importe angewiesen ist, nachdem dort die alternden Reaktoren aufgrund technischer Probleme und zunehmend auch wegen Kühlwassermangels ausfallen. Am Dienstag war nur noch 40 Prozent der französischen AKW-Leistung verfügbar.
Brennelemente sind schwer zu beschaffen
Zur Frage, wie schnell für die deutschen Reaktoren theoretisch weitere Brennelemente zu beschaffen wären, gab es zuletzt widersprüchliche Aussagen. Mycle Schneider, Atompolitikberater in Paris, verweist auf die weltweit begrenzte Herstellungskapazität. Es könne zwar durchaus sein, dass man für einen Reaktor binnen eines Jahres Brennstoff bekomme, für einen zweiten Reaktor könne es dann aber schon viel länger dauern. Firmen wie Westinghouse hätten schon viel versprochen, etwa was Bauzeiten neuer Atomreaktoren betrifft.
Bei Brennelementen habe RWE mal von ein bis zwei Jahren Lieferfrist gesprochen: „Das halte ich für glaubwürdig“, so Schneider. Zur aktuellen Debatte in Deutschland sagt der Atomexperte: „Ein AKW knipst man nicht an und aus wie eine Glühbirne.“ Der Betrieb erfordere „ein komplexes mehrjähriges Zusammenspiel von Personal-, Material- und Dienstleistungsplanung“.
Bei einem alten Auto, dessen TÜV in Kürze abläuft, investiere man auch nicht mehr in neue Bremsen. Genau deshalb seien auch die AKW-Betreiber gar nicht an einem Weiterbetrieb interessiert. Müssten sie allerdings „auf Anweisung der Bundesregierung umplanen, würden sie das nur unter knallharten Bedingungen tun, zum Beispiel sehr hohen Kompensationszahlungen, Mindestlaufzeiten und Ähnlichem“.
Grüne lenken leicht ein
Auch Umweltverbände argumentieren daher mit der Sicherheit. Die Risiken und Kosten eines Weiterbetriebs stünden „in keinem Verhältnis zu den dadurch gewonnenen, vergleichsweise geringen Strom-Kapazitäten“, sagt Olaf Bandt, Vorsitzender des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland. Die SPD und die Grünen ließen sich „mit einer populistischen Scheindebatte von CDU/CSU und FDP vor sich hertreiben“.
Auch die Grünen hatten bisher von einer Scheindebatte gesprochen, bevor sie am Sonntag ankündigten, den Sachverhalt nochmal ergebnisoffen zu prüfen: Die Bundesregierung kündigte eine zweite Sonderanalyse an, oft als Stresstest bezeichnet. Sie soll zeigen, ob im kommenden Winter noch ausreichend Strom verfügbar ist. Eine besondere Rolle dürfte dabei der Reaktor Isar 2 spielen – erstens, weil im deutschen Süden der Strom oft knapp ist, und zweitens, weil die Brennelemente des bayerischen Reaktors nach neueren Berichten noch über etwas Reserve über den Jahreswechsel hinaus verfügen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Innereuropäische Datenverbindung
Sabotageverdacht bei Kabelbruch in der Ostsee
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom