Ausfall von Nord Stream 1: Gasspeicher werden wieder angezapft
Der Pipeline-Ausfall geht zulasten der Speicherstände. Auch Frankreich bezieht wegen stillstehender Atomkraftwerke Gas aus Deutschland.
Der Füllstand der Erdgasspeicher in Deutschland sinkt wieder leicht. Seit Mitte der Woche wird nach mehreren Monaten der Einspeicherung erstmals wieder in geringem Maße Erdgas entnommen, wie die Bundesnetzagentur am Donnerstag mitteilte. Der Grund: Die Pipeline Nord Stream 1 wird seit dem 11. Juli gewartet und fällt seither komplett aus. Dieser Schritt war angekündigt; die alljährlich stattfindenden Wartungsarbeiten sollen bis zum 21. Juli andauern.
Seit Mitte März hatte Deutschland den Füllstand seiner Gasspeicher von anfangs 24 Prozent auf zuletzt 64,5 Prozent erhöhen können. Aktuell steht Deutschland damit im Vergleich zum Vorjahr, als zu gleicher Zeit die Speicher nur zu 45 Prozent gefüllt waren, recht gut da. Unklar ist jedoch, ob nach dem 21. Juli wieder Gas über Nord Stream 1 nach Deutschland fließen wird. In ihrem Lagebericht schrieb die Bundesnetzagentur am Donnerstag, die Situation sei „angespannt“, es könne „eine Verschlechterung nicht ausgeschlossen“ werden.
Die Verknappung an Erdgas hat zu steigenden Preisen an den europäischen Märkten geführt. Erdgas zur Lieferung im kommenden Winter wird aktuell für rund 180 Euro je Megawattstunde gehandelt. Vor einem Jahr hatte der Preis noch bei rund 23 Euro gelegen.
Diese Verachtfachung des Großhandelspreises kommt allerdings bei den Haushalten etwas gedämpft an, weil andere Preisbestandteile des Endkundenpreises stabiler sind. Trotzdem werden die gestiegenen Großhandelspreise beim Endverbraucher ankommen. Der Präsident der Bundesnetzagentur, Klaus Müller, warnte bereits vor einer Verdreifachung der Gaspreise für Verbraucher im kommenden Jahr.
Energiesparen wird unvermeidlich
Damit wird das Energiesparen nicht nur aus finanziellen Gründen, sondern auch für die Versorgungssicherheit unvermeidlich. Am Donnerstag veröffentlichten zwei Institute der Fraunhofer-Gesellschaft und die TU Berlin ein gemeinsames Gutachten. Daraus geht hervor, dass bei einem Wegfall der russischen Erdgasimporte das europäische Gasnetz im kommenden Winter nur 75 Prozent jenes Bedarfs decken kann, der im vergangenen Winter herrschte.
Dieses Defizit sei „infrastrukturell bedingt“: Selbst bei ausreichender Verfügbarkeit von Erdgas fehlten Flüssigerdgas-Terminals (LNG-Terminals) und Pipelines, um das Gas in Europa anzulanden und zu verteilen. Immerhin wird bereits gespart in Deutschland: Seit Jahresbeginn liege der Erdgasverbrauch mehr als 10 Prozent unter dem Vorjahreswert, errechnete der Branchenverband BDEW.
Die überwiegenden Importländer sind nach dem Wegfall Russlands nun Norwegen, die Niederlande und Belgien. Deutschland exportiert aber auch Erdgas in Nachbarländer, beziehungsweise leitet dieses durch – zuletzt vor allem nach Tschechien, Österreich, Polen und in die Schweiz.
Auch nach Frankreich floss zuletzt Erdgas aus Deutschland über den Grenzübergangspunkt im saarländischen Medelsheim. Nach Zahlen des Branchenverbands BDEW waren es im vergangenen Monat 1,7 Milliarden Kilowattstunden. Zur Einordnung: Der aktuelle Speicherstand Deutschlands liegt bei rund 156 Milliarden Kilowattstunden.
Mehr Strom aus Erdgas in Frankreich
Frankreich erzeugt derzeit deutlich mehr Strom aus Erdgas als üblich. Im Verlauf des Juli lag der Anteil der Erdgaskraftwerke am französischen Strommix bei 8,6 Prozent gegenüber 3,5 Prozent im Vorjahresmonat. Hintergrund ist der Ausfall zahlreicher Atomkraftwerke wegen Wartungsarbeiten und technischer Probleme. Mangel an Kühlwasser verschärft die Lage inzwischen zudem.
Am Donnerstag kamen die französischen Atomkraftwerke zusammen nur noch auf eine Erzeugungsleistung von 26 Gigawatt. Damit waren nur 42 Prozent der Kraftwerkskapazitäten verfügbar. Beobachter rechnen bereits damit, dass die Jahresproduktion der Reaktoren im Jahr 2022 auf den niedrigsten Stand seit drei Jahrzehnten sinken könnte.
Aber nicht nur Erdgas fließt derzeit aus Deutschland nach Frankreich, sondern auch Strom. In der jüngsten Halbjahresbilanz bezog Frankreich erstmals per Saldo Strom aus Deutschland: Gut 2 Milliarden Kilowattstunden flossen in den letzten sechs Monaten nach Frankreich.
Der Hintergrund der Stromexporte ist offenkundig: In Frankreich liegt das Strompreisniveau im Großhandel seit Monaten wegen des Ausfalls der dort marktdominierenden Atomkraftwerke deutlich höher als in Deutschland. Die Händler kaufen also gerne Strom in Deutschland ein, wo an der Strombörse die Megawattstunde seit Jahresbeginn im Mittel für 192 Euro gehandelt wurde – gegenüber 238 Euro in Frankreich
Leser*innenkommentare
Pele
Radikale Energiewende jetzt!!
Vereinfachte Genehmigung von Windkraftanlagen, Solardachpflicht auf allen dafür geeigneten Dächern und Kraftwerke zur Erzeugung von Wasserstoff, optimalerweise in Wüsten, um Biosphäre und Anbaufläche zu schonen.
93851 (Profil gelöscht)
Gast
Man kann es nichtbesser sagen:
youtu.be/sou1d7CwmSM.
Politische deutsche Entscheidungen, ein Nogo:
youtu.be/uRHTUL9DkZg.
Manfred Hackl
Da hat Merkel mit Sichheit, einen Klüngel mit Frankreich gemacht. Da klappt es mit der Eu, beim Alleingang. Aber seit Jahren nicht, mit der Zeitumstellung. Tolle EU. Braucht keiner.
nutzer
"Im kommenden Winter nur 75 Prozent jenes Bedarfs decken kann"
ui, das wird knallen... mit dieser Prognose sind sämtliche Bekundungen aus der Politik nur Beruhigungspillen. Wenn 25% fehlen sollten, lässt sich das nicht durch Einsparen kompensieren und die explodierten Preise lassen sich nicht mehr bezahlen. Das wird nicht nur teuer, das bedeutet für viele dann Obdachlosigkeit. Gassperrenmoratorium hin oder her... bezahlt werden muß trotzdem.
Ohne dirigistische und knallhart regulierende Eingriffe in Verteilung und Preisgestaltung lässt sich eine solche Krise, nicht handhaben. Tut die Politik das nicht, läuft es unkontrolliert mit allen unkontrollierbaren politischen Folgen...
Die Hoffnung stirbt zu letzt scheint das allgemeine Motto zu sein und ja, möglicherweise liefert Russland evtl doch wieder Gas, das wäre dann Schwein gehabt, aber die Folgen eines Ausfalls nicht schon jetzt konkret vorzubereiten ist unverantwortlich. Wer jetzt noch auf die Selbstheilung des Marktes hofft hat den Schuß nicht gehört.
Taztui
Wo sind eigentlich all die Befürworter des sofortigen Stop des Import von Gas & Öl aus Russland geblieben? Es sollte doch alles ganz einfach sein …
noevil
Vor dem Hintergrund der sinkenden Flusspegel infolge der aktuellen und demnächst zu befürchtenden Hitzewellen stellt sich mir - speziell an die FDP - die Frage nach Kühlwasser für die drei verbleibenden AKW's, die nach deren Vorstellungen länger am Netz bleiben sollen.
Uranus
" Im Verlauf des Juli lag der Anteil der Erdgaskraftwerke am französischen Strommix bei 8,6 Prozent gegenüber 3,5 Prozent im Vorjahresmonat. Hintergrund ist der Ausfall zahlreicher Atomkraftwerke wegen Wartungsarbeiten und technischer Probleme."
Das sollte mensch sich zum Vorbild nehmen für Glanzideen wie Laufzeitverlängerung und AKW-Neubauten. /Sarkasmus/
Mopsfidel
Es wird ja immer behauptet, in Deutschland würde auf dem Energiesektor vieles Faust laufen. Wenn man sich aber den größten "Stromfresser" Europas - Frankreich - anschaut, so muß man feststellen, daß andernorts die Probleme noch viel größer sind. Und nein, Atomstrom ist leider nicht die erhofte Lösung. Denn die Düre- und Hitzeperioden werden in den nächsten Jahren noch zunehmen. Jedes Dampfkraftwerk wird zukünftig zum Peoblemfall - zumindest im Sommer.