piwik no script img

Streit in der Kenia-KoalitionAbschiebepolitik entzweit Sachsen

Die Landes-CDU will bei einer harten Linie bleiben, Grüne und SPD kritisieren die Pläne. Doch ob sie sich durchsetzen können, ist mehr als unklar.

Abgelehnte Asyl­be­wer­be­r*in­nen werden zum Flughafen Leipzig gebracht (Archivbild) Foto: Sebastian Willnow/dpa

Leipzig taz | Der Streit über die Abschiebepraxis in Sachsen geht weiter. Ein vom CDU-geführten Innenministerium erarbeiteter Leitfaden zur Abschiebung abgelehnter Asyl­be­wer­be­r*in­nen stößt bei den Koalitionspartnern Grüne und SPD auf scharfe Kritik. Diese hatten Innenminister Roland Wöller (CDU) mehrfach aufgefordert, Regeln zur Abschiebung aufzustellen. Der Leitfaden ist Teil des 2019 geschlossenen Koalitionsvertrages.

Es sei „enttäuschend“, dass der Innenminister „nach so langer Zeit kein besseres Papier“ vorgelegt habe, sagt Albrecht Pallas, innenpolitischer Sprecher der SPD im Sächsischen Landtag, der taz. Mit dem Leitfaden „Rückführungspraxis“ erwecke das Innenministerium erneut den Eindruck, Abschiebungen seien sein wichtigstes Ziel. Auch die asylpolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Petra Čagalj ­Sejdi, findet: „Der Leitfaden spiegelt nur die aktuelle Abschiebepraxis wider und entspricht damit nicht unseren Abmachungen im Koalitionsvertrag.“

In dem Vertrag heißt es, dass Abschiebungen „so human wie möglich und unter besonderer Berücksichtigung des Kindeswohls gestaltet werden“. Beides treffe auf den Entwurf des Leitfaden aber nicht zu, bemerkt Čagalj Sejdi. Die Opposition findet noch härtere Worte und kritisiert den „Leitfaden Rückführungspraxis“ grundsätzlich: Statt Abschiebungen „besser“ zu machen, müsse es darum gehen, Bleiberechte zu sichern, sagt Juliane Nagel von der Linksfraktion. „Vor allem für diejenigen Menschen, die sich hier ein neues Leben aufgebaut haben.“

Auf besonders große Ablehnung stößt Innenminister Wöller bei den Koalitionspartnern mit seinem Vorhaben, Sozial- und Jugendämter stärker dabei einzubinden, abgelehnte Asyl­be­wer­be­r*in­nen zur freiwilligen Ausreise zu bewegen. Die Ämter könnten auf die „nachteiligen Folgen“ hinweisen, „die eintreten, wenn die ausländische Person ihrer Ausreisepflicht nicht nachkommt“, heißt es im Entwurf des Leitfadens, welcher der taz vorliegt.

So­zi­al­ar­bei­te­r:in­nen als Abschiebehelfer?

„Das ist ein sehr starker Eingriff in die Arbeit der Jugendämter und gefährdet diese auch“, sagt die Grüne Čagalj Sejdi. Jugendämter müssten Vertrauen zu Familien aufbauen, um ihrer eigentlichen Arbeit – Kinder und Jugendliche zu betreuen und zu schützen – nachgehen zu können. „Wenn Familien das Gefühl haben, dass das Jugendamt sie zur Ausreise überreden will, dann werden sie sich kaum mit Problemen ans Jugendamt wenden.“

Auch der SPD-Abgeordnete Pallas findet es falsch, Jugendämter einzubinden: „Im Gegenteil müssen Jugendämter mit ihrem Blick auf das Wohl der betroffenen Kinder und Jugendlichen eine viel stärkere Stimme bei der Frage bekommen, ob Abschiebungen überhaupt zumutbar sind.“

Der Leitfaden sieht außerdem vor, dass Abschiebungen künftig „soweit möglich“ am Tag durchgeführt werden. In dem Papier heißt es aber auch: „Ist eine Abschiebung zur Tagzeit nicht möglich, ist eine Vollstreckung zur Nachtzeit in Betracht zu ziehen, insbesondere, wenn dies im Hinblick auf den Abflugtermin erforderlich ist.“

SPD und Grüne, die mehrfach gefordert hatten, Familien mit minderjährigen Kindern nicht zwischen 20 Uhr abends und 6 Uhr morgens abzuschieben, kritisieren auch diese Passage deutlich. „Die Formulierung ‚soweit möglich‘ ist schwammig und lässt Nachtabschiebungen von Familien mit Kindern weiter zu“, moniert Čagalj ­Sejdi. Seitens der SPD heißt es: „Gerade für Familien mit Kindern führt ein nächtliches Abholen zu traumatischen Situationen. Das gilt es zu verhindern.“

Schwammig und vage

Darüber hinaus steht in dem Leitfaden, dass Familien bei einer Abschiebung „möglichst“ nicht getrennt werden sollen. Seien jedoch alle Familienmitglieder ausreisepflichtig, sei eine Trennung „nicht grundsätzlich“ unzumutbar. Schließlich könnten die verbliebenen Familienangehörigen laut dem Papier jederzeit freiwillig ausreisen – „so dass die Trennung absehbar nur von vorübergehender Dauer ist“.

Mit dieser Formulierung legitimiere die CDU letztlich doch Familientrennungen, kritisiert Čagalj Sejdi. Die Bedingung, dass alle Familienangehörigen ausreisepflichtig sein müssen, treffe auf den Großteil der abgelehnten Asyl­be­wer­be­r*in­nen zu. „Dadurch bleiben Familientrennungen weiterhin möglich.“ Ihr sei schon klar, sagt Čagalj Sejdi, dass Grüne und SPD die CDU „nie“ dazu bringen könnten, Familientrennungen komplett zu verbieten. „Aber dieser Formulierungsvorschlag, wie er jetzt im Entwurf steht, muss nachgebessert werden.“

Auch den Zusatz, dass Kinder bis drei Jahre nicht von ihren Eltern getrennt werden sollen, kritisiert Čagalj Sejdi scharf. Es sei für alle Kinder traumatisierend, wenn sie von einem Elternteil getrennt würden, „auch für Kinder über zehn Jahre“.

Die Grünen-Politikerin bemängelt, dass der Leitfaden insgesamt durchzogen sei von schwammigen Aussagen, die zu viel Raum für Interpretationen ließen. So heißt es in dem Papier weiter, dass Minderjährige „grundsätzlich“ nicht aus der Kita oder der Schule zur Abschiebung abgeholt werden sollen. Auch eine Abholung vom Arbeitsplatz solle „möglichst“ vermieden werden. „Wir verstehen unter Begriffen wie ‚möglichst‘ oder ‚grundsätzlich‘ etwas völlig anderes als das Innenministerium“, sagt Čagalj Sejdi. Es brauche deshalb klare Regeln, was erlaubt ist und was nicht.

Eine echte Wende ist wohl nicht drin

Das sächsische Innenministerium will sich zu der Kritik von SPD und Grünen derzeit nicht äußern. Zum Thema Nachtabschiebungen teilt das Ministerium auf Anfrage mit: Nächtliche Abschiebungen seien bei vielen Herkunftsländern „aufgrund der Reisezeiten schlicht unabdingbar“. Wenn die Betroffenen erst am Nachmittag in Deutschland abflögen und somit spät in der Nacht im Herkunftsland ankämen, dann sei es schwierig, weiterzureisen oder eine Unterkunft zu finden. Auch andere Bundesländer würden nachts abschieben, heißt es in der Antwort.

Die schwarz-rot-grüne Regierung in Sachsen streitet schon lange über die Abschiebepraxis im Land. Schon bei den Koalitionsverhandlungen 2019 war das Thema ein Konfliktpunkt. Zugespitzt hatte sich der Streit im Juni dieses Jahres, als eine neunköpfige Familie aus Pirna nachts nach Georgien abgeschoben wurde. Die Familie lebte seit acht Jahren in Pirna, fünf der sieben Kinder waren in Deutschland geboren. Inzwischen ist die Familie wieder in Sachsen, das sächsische Oberverwaltungsgericht hatte die Abschiebung nachträglich als rechtswidrig eingestuft.

Der sächsische Koalitionsausschuss einigte sich zuletzt drauf, dass der Leitfaden von einer Arbeitsgruppe, bestehend aus Innenministerium und den fachpolitischen Sprechern der Fraktionen, überarbeitet werden soll. Bis Jahresende soll ein Ergebnis vorliegen. Wann sich die Arbeitsgruppe das erste Mal trifft, steht noch nicht fest.

Grüne und SPD hoffen darauf, ihre Forderungen noch durchsetzen zu können. Čagalj Sejdi sagt aber auch: „Wir arbeiten beim Thema Abschiebungen an einer 180-Grad-Wende, treffen bei der CDU aber auf erhebliche Widerstände.“ Das Innenministerium habe letztlich gar kein Interesse daran, die Situation zu verändern. Es finde den Jetzt-Zustand ja in Ordnung. Grüne und SPD befänden sich in einer Zwickmühle, so Čagalj Sejdi: „Je härter wir bei unseren Positionen bleiben, desto weniger wird sich überhaupt ändern.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • RS
    Ria Sauter

    Es wäre wünschenswert, dass Menschen, die keinen Anspruch auf Asyl haben, zurück in ihre Heimatländer gehen. Freiwillig oder mit Druck.



    Das würde die Akzeptanz für das Grundrecht auf Asyl enorm stärken und denen enorm helfen, die es benötigen.

  • "Schließlich könnten die verbliebenen Familienangehörigen laut dem Papier jederzeit freiwillig ausreisen" - das gilt grundsätzlich für alle, die ausreisepflichtig sind. Warum eigentlich auf die Unannehmlichkeiten einer Abschiebung warten? Diese ist nur das allerletzte Mittel des Rechtsstaats, seine letztinstanzlichen Entscheidungen auch im wirklichen Leben durchzusetzen. Wenn man Rechnungen nicht bezahlt, kommt ja auch irgendwann der Gerichtsvollzieher. Wenn es dazu kommt, wurden in den Wochen und Monaten davor schon viele andere Mahnungen und Warnsignale geflissentlich ignoriert.