Streiks in Frankreich und Deutschland: Die Kräfteverhältnisse umkehren
Streiks sind mehr als der Kampf um Lohnerhöhung oder ein frühes Renteneintrittsalter. Sie sind Warnung davor, den Sozialstaat weiter zu schwächen.
S ie haben die Hebel wieder in der Hand: In Frankreich stehen die Ölraffinerien still, AKWs werden bestreikt, kaum ein Zug fährt mehr. Mitarbeiter*innen des streikenden Energiesektors greifen aktiv in die Verhältnisse ein. Diese Woche wurden zuerst die Arbeitsräume des Senatspräsidenten Gérard Larcher kurzzeitig vom Strom abgeschnitten, dann eine Amazon-Zentrale.
Im Februar schalteten die Arbeiter*innen mehrerer besetzter Zentralen den Strom für jene Armutsbetroffenen wieder an, die wegen unbezahlter Rechnungen im Dunkeln saßen. Was in Frankreich anlässlich einer geplanten Rentenreform passiert, ist eine Umkehrung der politischen Kräfteverhältnisse.
Mitten im Schlamassel erlaubte sich Präsident Emmanuel Macron, den Multimilliardär und Amazon-Chef Jeff Bezos zum Mitglied der französischen Ehrenlegion zu küren. Worin dessen Verdienst besteht, bleibt den Französ*innen derweil ein Rätsel. Steuern, die etwa dringend für die Rentenkassen gebraucht würden, zahlt Amazon auf seine monströsen Umsätze dort jedenfalls nicht, und für faire Löhne ist das Unternehmen auch nicht eben bekannt.
Der Massenstreik gegen die Rentenreform in Frankreich ist längst nicht mehr nur ein Kampf gegen die Anhebung des Renteneintrittsalters. Es ist ein grundsätzlicher Kampf gegen den Abbau des Sozialstaats, der in vielen europäischen Ländern von Parteien jeglicher Couleur vorangetrieben wird. Dieser Abbau des Sozialstaats zerstört die Gesellschaften. Er schafft soziale Ungerechtigkeiten und nährt den Rechtsextremismus.
Geradezu vorbildlich
So ist es nur angemessen und geradezu vorbildlich, mit allen zivilen Mitteln dagegen anzugehen. „Streik ist ein Ausdruck der hohen Zivilisation“, so in etwa lässt sich der Satz des französischen Journalisten Léonard Vincent übersetzen. Auch, wenn man Zivilisationen nicht in „hoch“ und „tief“ einteilen möchte, kann man dem etwas abgewinnen. Streik ist entschiedener Ausdruck politischer Teilhabe.
Er erfordert Mut gegen Arbeitgeber*innen und wütende Fernsehkommentator*innen, den Verzicht auf Gehalt, ein Durchhaltevermögen – all das, um einer politischen Forderung Nachdruck zu verleihen. Um die Regierenden daran zu erinnern, dass andere den Laden am Laufen halten.
Deutschland wäre demnach wohl so etwas wie eine Tiefkultur. Denn um das Streikrecht steht es hierzulande schlecht: Erlaubt sind Arbeitsniederlegungen, die gewerkschaftlich getragen werden. Streiks für Tarifverhandlungen, nicht jedoch politische Streiks. So ist die Rechtslage. Darüber hinaus spricht sich laut einer von der CDU in Auftrag gegebenen Umfrage die Mehrheit der Deutschen für eine Einschränkung des Streikrechts aus.
FFF und Verdi
Hier stellt sich eine Mischung aus calvinistischer, autoritätshöriger Arbeitsmoral („arbeite und gehorche“) und neoliberalem Hyperinvidualismus („bitte nicht meinen Alltag und Konsum stören“) gegen einen Grundpfeiler der Demokratie. Mit der Logik könnte man sich auch gegen Demonstrierende positionieren, denn sie nerven ja. Während Menschen in vielen anderen Ländern der Welt gegen autoritäre Regime kämpfen, wird ein demokratischer Wert hierzulande von konsumistischer Bequemlichkeit gleichgültig und in völliger Bewusstlosigkeit weggedrückt.
Hauptsache, das Paket kommt pünktlich. Und doch gibt es Lichtblicke. Die Klima-Aktivistin Greta Thunberg hat vor ein paar Jahren das Konzept des politischen Streiks nach Deutschland gebracht: Fridays for Future (FFF). Allerdings haben Schüler*innen und Studierende bei der Arbeitsniederlegung keine Wirkung auf die Produktionsverhältnisse. Der Druck auf die Politik hält sich in Grenzen, solange die Räder der Wirtschaft weiter rattern und Dividenden ausgeschüttet werden.
Nach vielen Jahren des Klimastreiks passierte aber Anfang des Monats etwas Fundamentales in Deutschland: FFF und Verdi mit dem Personal aus öffentlichen Verkehrsmitteln haben sich zusammengetan. Klimaschutz, soziale Gerechtigkeit und Arbeitskampf werden zusammengedacht und -erkämpft. Dieser Schulterschluss könnte der Grundstein für eine tatsächlich wirkungsvolle Bewegung sein. Er ist politisch richtig und bietet strategisch die Möglichkeit höherer Wirksamkeit.
Diese Woche hat auch die Post angekündigt, in den unbefristeten Streik zu treten. Richtig so. Während das Unternehmen Milliardengewinne erzielt und Dividenden ausschüttet, wird der reale Wert durch unterbezahlte Paketlieferant*innen erwirtschaftet. Wer sich demnächst über verspätete Zustellungen ärgert, sollte kurz innehalten und nach Frankreich schauen. Dort wird am Dienstag erneut die Arbeit massenhaft niedergelegt. Wem sie wohl dieses Mal den Strom abstellen?
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