Straßenmagazin-Gründer über Hilfe: „Der Ausweg ist ein Grundeinkommen für alle“
Jo Teins, Mitgründer des Obdachlosenmagazins „Hempels“, nimmt wahr, dass sich die Szene verändert: Mehr jüngere Leute leben auf der Straße.

taz: Herr Tein, warum heißt ein Obdachlosen-Magazin ausgerechnet Hempels?
Joachim Tein: Weil bei einem Treffen der Initiativ-Gruppe, die 1995 die erste Ausgabe der Zeitschrift vorbereitet hat, einer der Teilnehmer rief: „Das Ding muss Hempels heißen, so wie ‚Hempels unterm Sofa‘.“ Damit war die Diskussion beendet, eine bessere Idee hatte keiner.
taz: Klar, an den Spruch denkt man. Aber die meisten Menschen, die mit dem Heft an der Straßenecke stehen, haben vermutlich gar keine Wohnung, geschweige denn ein Sofa. Steckt in dem Namen auch die Hoffnung, einer festen Bleibe näher zu kommen?
Tein: Ja, allerdings muss ich hinzufügen, dass unsere Verkäuferinnen und Verkäufer nicht nur Obdach- oder Wohnungslose sind. Die Idee für die Zeitung ist zwar vor 30 Jahren in einer Tagesklinik für Wohnungslose entstanden, aber unsere Zielgruppe waren schon immer alle, die als arm gelten, etwa Menschen mit Mini-Renten oder solche, die Sozialleistungen beziehen. Aber bis heute ist ein großer Teil der Verkäuferinnen und Verkäufer wohnungslos oder war es. Das Thema ist zentral für unsere Arbeit, aber es ist nicht das alleinige.
taz: Das spiegelt sich in den Heften, etwa in der Juni-Ausgabe: Da steht das Portrait einer Gebärdendolmetscherin, es geht um jugendliche Straftäter und es gibt ein Interview mit dem Kieler Sozialdezernenten zu Unterkunftsmöglichkeiten für Obdachlose – Gesprächspartner:innen zu finden, scheint kein Problem zu sein?
Tein: Darüber habe ich neulich zufällig mit Redaktionsleiter Wolf Paarmann gesprochen, und er sagte, nach seinem Eindruck ist es völlig klar, dass man uns Rede und Antwort steht. Das hat Tradition: In einer der ersten Ausgaben gab Heide Simonis, damals Ministerpräsidentin, Hempels ein Interview. Relativ bald fanden wir überall offene Türen.
taz: Wobei Sie keinen streng neutralen Journalismus machen, sondern sich als parteilich verstehen?
Tein: Ja, natürlich. Wir sind presserechtlich unabhängig, aber sehen uns als Lobby und Sprachrohr derjenigen Menschen, die in Armut leben, die prekär und ausgegrenzt sind, und deren Stimmen oft nicht gehört werden.
taz: Die Redaktion wird von einem erfahrenen Journalisten geleitet. Die erste Ausgabe, die im Februar 1996 erschien, wurde von Obdachlosen geschrieben. Warum haben Sie das geändert?
Tein: Das dauerte eine ganze Weile. Nach etwa fünf Jahren, es muss 2001 oder 2002 gewesen sein, merkten wir, dass die Auflage zurückgeht, nachdem wir anfangs hohe Verkäufe gehabt hatten. Wir haben diesen Einbruch darauf zurückgeführt, dass es auf Dauer nicht reicht, ungefiltert Erfahrungsberichte ins Blatt zu heben. Das hat sich bestätigt: Mit professionellen Kräften und Qualität stieg die Auflage wieder. Die Kritik kam übrigens auch von den Leuten im Verkauf: Alle wollten ein gutes Produkt in der Hand halten.
taz: Gibt es heute noch Obdachlose, die am Heft mitarbeiten?
Tein: Wir nehmen Themen auf, die uns aus dem Hempels-Haus, aus Einrichtungen oder von VerkäuferInnen zugespielt werden. Aber Texte und Fotos stammen von Profis. Trotzdem wollen wir zum 30-jährigen Bestehen wieder mehr Originalstimmen ins Heft bringen. Wir bieten seit einigen Jahren Schreibwerkstätten in Knästen an. Das Konzept wollen wir erweitern, um Interessierten ein bisschen Handwerkszeug zu geben.
taz: Die Hälfte des Verkaufspreises der Hefte geht an die Verkäufer:innen, damit bleibt nicht viel für den Träger-Verein. Bekommen Sie Fördermittel?
Tein: Dazu muss ich etwas ausholen. 2020 haben wir einen größeren Schnitt gemacht, nachdem die Aktivitäten stark gewachsen waren, zum Beispiel haben wir Trinkräume eingerichtet und Sozialarbeit angeboten. Das gelingt nur mit Förderung, aber irgendwann machte die etwa die Hälfte des Umsatzes des Vereins aus, und wir merkten, dass sich das auf unsere journalistische Unabhängigkeit auswirkt. Daher haben wir eine gemeinnützige GmbH mit der Diakonie Altholstein gegründet und dorthin alles ausgegliedert, wofür es Fördermittel braucht. Der Hempels-Verein macht nur noch, was aus eigener Kraft geht. Das Haus wird durch eine Stiftung getragen, ansonsten finanzieren wir uns über Verkäufe, Anzeigen und Spenden.
Jahrgang 1958, ist Vorstandsvorsitzender des Vereins Hempels e.V. Er stammt aus Hamburg, besuchte die Evangelische Fachhochschule für Sozialpädagogik und arbeitete beim Diakonischen Werk als Sozialarbeiter. Nach einer Phase der Selbständigkeit zog er nach Kiel, wo er ein Theologiestudium abschloss, bei der evangelischen Stadtmission anfing und Geschäftsführer bei Hempels e.V. wurde. Nach Geschäftsführungstätigkeiten für einen Landesverband und eine Landesstiftung war er bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2024 als Referatsleiter für Straffälligenhilfe und als Stabsstellenleiter für den Opferschutz im Landes-Justizministerium tätig. 2010 wurde er mit dem Bundesverdienstkreuz ausgezeichnet.
taz: Eigentlich klagen alle Zeitungen über Auflagenrückgänge. Wie sieht es bei Hempels aus?
Tein: Wir haben ein Produkt, das sich verkauft – das liegt an der Nische, in der sich Hempels bewegt. Aber auch unsere Auflage ist von 20.000 verkauften Stück auf 14.000 gesunken. Sonder-Drucke, etwa ein Kalender und Rezeptbücher, fangen vieles auf, aber wir merken den Trend, der allen Printmedien zu schaffen macht. Wir wollen nun das Bezahlen erleichtern, es soll digital gehen. Dazu bekommen die Verkäufer einen QR-Code, sodass wir ihnen ihre Verkäufe zuordnen können.
taz: Verkauft wird das Heft auch in kleineren Orten. Wie läuft das?
Tein: Tatsächlich sind kleinere Orte oft die besseren Verkaufsplätze. Daher fahren einige Verkäufer von Kiel aus in die Umgebung. Dennoch sind gut zwei Drittel der Leute in Kiel unterwegs. Um das zu entzerren, beschäftigen wir in Lübeck einen Minijobber, der dort Leute berät.
taz: Wie ist generell die Lage für Obdach- und Wohnungslose in Schleswig-Holstein?
Tein: Es gibt keine offiziellen Statistiken für Wohnungslosigkeit, aber der Armutsbericht der Stadt Kiel und die Beratungszahlen des Diakonischen Werkes zeigen, dass sie zunimmt. Nach meinem Eindruck kommen immer mehr jüngere Leute in die Einrichtungen, viele mit komplexen Problemlagen, mit Sucht und psychischen Krankheiten. Diese Menschen sind häufig nicht in der Lage, Hefte zu verkaufen, geschweige denn andere Arbeiten zu übernehmen. Wir stellen einen Wechsel in der Verkäuferschaft fest: In den Nuller- und Zehnerjahren stammten viele aus EU-Ländern, etwa Rumänien oder der Slowakei. Die sind heute noch da, aber es kommen andere hinzu.
taz: Hempels hat ein Housing-First-Projekt gestartet. Wie läuft das, und sind weitere Häuser geplant?
Tein: Gestartet sind wir mit einem Gebäude mit zwölf Wohnungen in Kiel-Gaarden, daneben bauen wir weitere neun Wohnungen. Aber es ist frustrierend: Das Gelände haben wir 2017 gekauft, seit 2018 planen wir, und sieben Jahre später sind wir noch dabei. Das kann man niemanden erklären. Auch wenn ich jetzt klinge wie jemand aus einer ganz anderen politischen Ecke: Wir brauchen dringend eine Deregulierung und weniger Bürokratie für solche Bauvorhaben.
taz: Dennoch wünschen Sie sich mehr Housing-First-Projekte?
Tein: Housing First ist nicht der Stein der Weisen, aber von Ansatz her richtig. Es braucht aber weitere Angebote, etwa begleitetes Wohnen, denn nicht alle Menschen sind sofort wohnfähig. Wer so ein Projekt startet, muss wissen: Es verursacht Kosten, etwa für die Sanierung, wenn Bewohner sterben oder aus anderen Gründen die Wohnung räumen.
taz: Grundsätzlich: Was müsste passieren, um Obdachlosigkeit und Armut zu lindern?
Tein: Wir müssen die Armutsverwaltung abbauen! Es ist absurd, wie viele Menschen in den Ämtern beschäftigt sind und wie hoch der Anteil der Personalkosten an den Sozialleistungen ist. Die Verfahren sind so kompliziert, dass die Betroffenen Fachstellen brauchen, um sie durch das Verfahren zu schleusen. Der Ausweg ist ein Grundeinkommen für alle. Das Argument, Menschen würden sich in der sozialen Hängematte ausruhen, trifft nur auf einen sehr kleinen Teil zu. Und selbst wenn es Mitnahmeeffekte gibt, würden die durch weniger Verwaltung mehr als ausgeglichen. Druck auszuüben nach dem Motto „Fördern und Fordern“, geht in die falsche Richtung. Es unterstellt, dass man nur an Schräubchen drehen muss, und dann funktioniert jeder Mensch.
taz: Ist es angesichts des Fachkräftemangels nicht leichter, wieder in Jobs zu kommen?
Tein: Wir arbeiten gut mit dem Jobcenter zusammen und haben in 1990er Jahren auf Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen gesetzt. Aber die Befristung ist das Problem. Es wird nicht akzeptiert, dass Menschen länger einen geschützten Arbeitsplatz brauchen. Wir sehen solche Maßnahmen inzwischen kritisch.
taz: Die Gesellschaft erlebt einen Rechtsruck. Spüren Sie das, spüren es die Verkäufer:innen auf der Straße?
Tein: Von der Straße höre ich nichts dergleichen, auch auf Social Media bekommen wir positive Rückmeldungen. Aber intern, im Haus, in unseren Beratungen, merken wir einen Stimmungswechsel. Viele haben das Gefühl, nicht gehört zu werden von,denen da oben'. Das ist der Nährboden, auf dem die AfD wächst. Wer in einem Ministerium arbeitet, hat nie Kontakt mit den Menschen, die hier im Haus ein und ausgehen. Politik und Verwaltung müssen auch ihnen zuhören und alle Lebenslagen einbeziehen. Wir wollen dazu beitragen: Auch deshalb wollen wir stärker wieder Original-Stimmen ins Blatt holen.
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