Strafverfolgung: Keine Anzeigepflicht bei Missbrauch
Es gibt rechtlich keine Verpflichtung, die Staatsanwaltschaft einzuschalten, wenn man von Missbrauchsfällen erfährt. Oft sind es sogar die Opfer selbst, die keine Strafverfolgung wünschen.
FREIBURG taz | Es gibt in Deutschland keine Anzeigepflicht für Fälle sexuellen Missbrauchs. Auch die katholische Kirche ist rechtlich nicht verpflichtet, die Staatsanwaltschaft einzuschalten, wenn sie von Missbrauchsfällen erfährt. Nach anfänglichen Irritationen hat dies am Mittwoch auch Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger (FDP) in einem Interview mit dem Deutschlandradio eingeräumt.
Konkret geht es um die 2002 verabschiedeten Richtlinien der Bischofskonferenz "zum Vorgehen bei sexuellem Missbrauch Minderjähriger durch Geistliche". Dort heißt es: "In erwiesenen Fällen sexuellen Missbrauchs wird dem Verdächtigen eine Selbstanzeige nahegelegt und je nach Sachlage die Staatsanwaltschaft informiert."
In den ARD-"Tagesthemen" am Montagabend fragte daher Moderatorin Caren Miosga die Justizministerin, ob es nicht besser wäre, wenn in jedem Verdachtsfall sofort die Staatsanwaltschaft eingeschaltet würde. Darauf antwortete Leutheusser-Schnarrenberger: "Kindesmissbrauch ist ein Offizialdelikt, und da können nicht andere drüber entscheiden, ob dieses Delikt verfolgt wird oder nicht."
Dabei vermischte sie in ungeschickter oder perfider Weise zwei Dinge: Fast jede Straftat ist ein Offizialdelikt, das heißt die Polizei muss ermitteln, sobald sie davon erfährt. Dennoch kann in Deutschland jedes Opfer und jeder Zeuge selbst entscheiden, ob es sein Wissen über eine bereits begangene Straftat an die Polizei weitergibt. Strafbar ist nur die Nichtanzeige "geplanter Straftaten". Und laut Strafgesetzbuch (§138) gilt auch dies nur bei Fällen wie Mord, Entführung oder Brandstiftung. Der sexuelle Missbrauch ist nicht erwähnt.
Die frühere Justizministerin Brigitte Zypries (SPD) wollte dies eigentlich ändern. In einem Gesetzentwurf von 2003 schlug sie vor, dass Angehörige und Nachbarn bestraft werden, wenn sie den noch andauernden oder bevorstehenden Missbrauch eines Kindes nicht der Polizei melden. Beratungsstellen - auch kirchliche - sollten von der Anzeigepflicht ausgenommen sein. Am Ende musste Zypries den Vorschlag zurückziehen, weil die Fachwelt fast einhellig protestierte. Die Opfer sollten sich an vertraute Personen - auch Nachbarn und Angehörige - wenden können, ohne damit sofort einen Automatismus polizeilicher Verfolgung auszulösen.
Auch bei aktuellen Fällen sexuellen Missbrauchs durch Priester sind es oft die Opfer selbst, die eine Strafverfolgung nicht wünschen. Der renommierte Essener Psychiater Norbert Leygraf berichtete am Dienstagabend aus seiner Begutachtungspraxis mit aktuellem kirchlichem Missbrauch: In vier von sechs Fällen unerwünschter und aufgedrängter Zärtlichkeiten waren es die Opfer, die die Kirche drängten, keine Anzeige zu erstatten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Preiserhöhung bei der Deutschen Bahn
Kein Sparpreis, dafür schlechter Service
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Bis 1,30 Euro pro Kilowattstunde
Dunkelflaute lässt Strompreis explodieren
Housing First-Bilanz in Bremen
Auch wer spuckt, darf wohnen
Ex-Wirtschaftsweiser Peter Bofinger
„Das deutsche Geschäftsmodell funktioniert nicht mehr“
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett