Straflager für Kreml-Kritiker: Kollektiver Nawalny
Das Putin-Regime wahrt nicht einmal mehr den Anschein von Rechtsstaatlichkeit. Das rigorose Vorgehen vergrößert jedoch die Solidarität mit Nawalny.
A uch für die russische Justiz war der Samstag ein außergewöhnlicher Tag. Zwei Prozesse gegen einen Beschuldigten, zwei Schlussworte, zwei Richterentscheidungen. Illusionen über den Ausgang der Verhandlungen hatte kaum jemand. Dieser Samstag zeigte die Eile, mit der das Regime in Moskau seinen ärgsten Feind, den der Kreml aus Alexei Nawalny über Jahre hinweg gemacht hatte, loswerden will. Mit allen Mitteln. Dabei will dieses Regime nicht einmal mehr einen Anschein von Rechtsstaatlichkeit wahren. Im Fall Nawalny verletzt es nicht nur seine eigenen Gesetze, es setzt sich auch über internationale Rechtsnormen hinweg. Begründung: Der Westen ist schuld.
Das ganze Verfahren gegen Nawalny ist von Zynismus geprägt. Die Umwandlung seiner Bewährungsstrafe – auch diese bereits fragwürdig – sowie das Abschmettern der Berufung sind eine Farce. Der Fall um die angebliche Verleumdung eines Weltkriegsveterans hat nicht einen 95-jährigen gebrechlichen Mann im Blick, sondern dient der Diskreditierung Nawalnys als Zerstörer russischer Heiligtümer. Kritik an allem, was den Sieg der Sowjetunion über Nazi-Deutschland betrifft, ist in Russland ein Tabubruch.
Nawalnys Pauschalangriff auf alle, die bei einem Werbevideo für die Putin'schen Verfassungsänderungen mitmachten, auch der Veteran, kam den Behörden sehr gelegen. Diese „Untat“ Nawalnys ist der Bevölkerung einfacher zu vermitteln als die konstruierte Bewährungsstrafen-Umwandlung, wegen der er für Jahre weggesperrt wird.
Das Prinzip „Aus den Augen, aus dem Sinn“ dürfte jedoch nicht so einfach funktionieren. Denn der Staat hat mit seinem rigorosen Vorgehen gegen den Kreml-Kritiker eine Art „kollektiven Nawalny“ geschaffen: Menschen, die die Scheinheiligkeit des Regimes durchschaut haben, die entsetzt sind über die Missachtung des Rechtsstaats, egal, wie sie zu Nawalny stehen. Der Staat schüchtert freilich auch sie ein, und doch finden sie Mittel, um die Nervosität des Staates offenzulegen, zumal im Wahljahr. Der Druck auf den Kollektiv-Nawalny macht die Probleme für den Kreml, ja für Putin, noch größer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krieg in der Ukraine
Kein Frieden mit Putin
Entlassene grüne Ministerin Nonnemacher
„Die Eskalation zeichnete sich ab“
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin