Strafanzeige gegen Heimleiterin: Heim außer Kontrolle
Ehemalige Mitarbeiterinnen erheben schwere Vorwürfe gegen die Betreiberin einer privaten Pflege-WG in Lutter. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.
Doch womöglich ist es mit der Idylle in der seit drei Jahren bestehenden privaten Wohngemeinschaft mit insgesamt sieben Zimmern für Pflegebedürftige nicht so weit her wie oben beschrieben. Denn wegen möglicher Missstände haben vier Frauen – drei von ihnen sind ehemalige Mitarbeiterinnen der Einrichtung – Strafanzeige gegen die Heimbetreiberin Carolina S. erstattet. Die Staatsanwaltschaft in Hannover leitete ein Ermittlungsverfahren ein, wie Behördensprecher Thomas Klinge bestätigte. Zuerst hatte der NDR über den Fall berichtet.
Und der Fall geht so: Die ehemaligen Mitarbeiterinnen erheben schwere Vorwürfe. Die Chefin der Einrichtung soll Senioren mit kalten Duschen bestraft und sie durch einen rüden Umgangston eingeschüchtert und mit Fäkalausdrücken beschimpft haben. Sie soll außerdem demente Bewohner nachts ohne die Möglichkeit eines Notrufs eingeschlossen und wiederholt zugelassen haben, dass Hunde in Zimmer der Wohngemeinschaft kacken.
Ihre Vorwürfe sollen die ehemaligen Mitarbeiterinnen mit Fotos und eidesstattlichen Versicherungen belegt haben. Nach ersten Medienberichten über den Fall haben noch weitere Personen Anzeigen eingereicht. „Es gibt eine Reihe von Anzeige-Erstattern“, sagt Oberstaatsanwalt Klinge. Die Vorwürfe reichten von Körperverletzung über Nötigung bis zu Beleidigung.
Vorwürfe zurückgewiesen
Carolina S. hat die meisten Vorwürfe zurückgewiesen. Sie habe nur eine der dementen Bewohnerinnen nachts hin und wieder eingeschlossen. Eine der früheren Helferinnen, die nun Anzeige erstatteten, habe zuletzt vor anderthalb Jahren in der Einrichtung gearbeitet, sagt S. Später habe die Familie der Helferin ihre pflegebedürftigen Großeltern in die Senioren-WG gegeben. „Wenn es hier wirklich so schlimm wäre, hätten sie das ja nicht tun müssen.“
Auch stünden ihre Türen jederzeit für Kontrollbesuche offen. Dem NDR zufolge erhält die Leiterin der Einrichtung Rückendeckung von anderen Angehörigen, die ihre Eltern in der WG gut aufgehoben wissen.
„Meine Senioren fühlen sich hier sehr wohl und sind familiär eingebunden“, schreibt Carolina S. im Internet. „Da ich als examinierte Altenpflegerin in dieser kleinen Wohngemeinschaft mit den Senioren rund um die Uhr zusammenlebe, haben sie mich als ihre feste Bezugsperson, auf die sie sich verlassen und vertrauen können.“ Das sei vor allem für Demenzerkrankte und Behinderte wichtig. „Ich koche, pflege, beschäftige und betreue meine Senioren sehr gerne“, so S. Zurzeit leben vier alte Menschen in der Wohngemeinschaft.
Das niedersächsische Sozialministerium in Hannover erklärte, wenn die Vorwürfe zuträfen, handele es sich um „unhaltbare Zustände“. Das Ministerium habe die Heimaufsicht und die Region Hannover um einen Bericht gebeten. Es stelle sich allerdings die Frage, ob es sich bei der Einrichtung in Lutter tatsächlich um eine Pflege-WG im Sinne des Gesetzgebers handele oder um ein kleines Pflegeheim. Eine Pflege-WG setze Mietverträge und die freie Wahl eines Pflegedienstes voraus. Tatsächlich gilt die Wohngemeinschaft rechtlich nicht als Seniorenheim, sondern als eine rein private, aber besondere Wohnform. Für die Pflegeleistungen zahlen die Krankenkassen, genauso viel wie bei pflegenden Angehörigen auch.
Die Heimaufsicht der Region Hannover fühlt sich für die Einrichtung denn auch nicht zuständig. Der medizinische Dienst der Krankenversicherung, der sowohl ambulante Pflegedienste als auch Heime kontrolliert, prüfe hier ebenfalls nicht, sagte dessen Sprecher Martin Dutschek der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung. Offenbar falle diese Versorgungsform durch das Raster.
Unterdessen hat die Staatsanwaltschaft in Hannover ihre Ermittlungen auch auf die Mitarbeiter einer Polizeiwache ausgeweitet, wie der NDR weiter berichtet. So habe ein Zeuge die Einrichtungsleiterin Carolina S. bereits vor drei Jahren anzeigen wollen. Er hatte damals den Verdacht, sein Onkel werde mit Morphium ruhiggestellt, obwohl dieser nach einem längst verheilten Beinbruch gar keine Schmerzmittel mehr gebraucht habe. Die Polizei in Schwarmstedt habe seine Anzeige angeblich nicht aufnehmen wollen, weil sie sich für nicht zuständig hielt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin