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Stimmen zur Räumung des „Dschungels“„Das Einzige, was sie haben“

Die Lebensbedingungen im Camp sind unerträglich, doch die Flüchtlinge sind wenigstens nah an England. An den Aufnahmezentren gibt es bereits Kritik.

Sie haben nichts anderes – doch sie werden vertrieben Foto: reuters

Amsterdam/Calais taz „Bitte zerstören Sie nicht den Dschungel“ – in leuchtendem Rot steht diese Botschaft auf Englisch auf der Plane einer selbst gezimmerten Bretterbude im bekanntesten Flüchtlingscamp des Kontinents. Aufhalten wird sie die Bulldozer, die später in dieser Woche anrücken werden, nicht. Das hat noch nie funktioniert. Das Errichten und Zerstören der „Dschungel“ genannten Lager in Calais und Umgebung folgt seit Jahren einem regelmäßigen Rhythmus.

Warum aber wollen Menschen trotz aller Probleme, aller Entbehrungen und der alltäglichen Unerträglichkeit des Lebens im „Dschungel“ diesen Zustand erhalten? Es gibt ein Foto aus dem Jahr 2009, als ähnlich wie heute vor den Augen der Weltpresse das damalige – freilich wesentlich kleinere – Camp geräumt und planiert wurde. Es zeigt afghanische Migranten mit einem Transparent, auf dem „Der Dschungel ist unser Zuhause“ steht. Zugrunde liegt der elementare Wunsch, eine wenn auch noch so ärmliche menschliche Behausung zu erhalten.

Mindestens ebenso wichtig ist aber die Funktion, die er für die Transitmigranten hat: Der „Dschungel“ befindet sich just an der Stelle, von der aus der letzte Schritt erfolgen soll, herüber ins mythisch überhöhte Vereinigte Königreich. Und genau hier bietet er zumindest ein Minimum an Infrastruktur, Essen, Kleidung, Zugang zu Informationen, und nicht zuletzt Austausch und ein soziales Umfeld, gerade durch die Restaurants und Geschäfte, in denen Bewohner zusammenkamen. Gerade der Gemeinschaftsaspekt ist nicht zu unterschätzen in einem Alltag, der im Zeichen zunehmend hoffnungsloserer Versuche steht, die andere Seite des Kanals zu erreichen.

Ein Londoner Demonstrationsaufruf für den Tag der Räumung bringt die Ambivalenz auf den Punkt: „Niemand sollte unter solchen Bedingungen leben müssen, aber sie zu zerstören ohne adäquate Unterbringung und Unterstützung für alle, die dort leben, ist unmenschlich und wird unnötiges Leiden verursachen.“

Es gibt nichts Gutes am Dschungel. Aber man ist zumindest nahe an England.

Die Kritik an den Aufnahmezentren, in die die Flüchtlinge von Calais in diesen Tagen gebracht werden, zielt just in diese Richtung: Es gibt bereits erste Berichte, dass sie zu abgelegen liegen und es abgesehen vom Dach über dem Kopf an sozialer Infrastruktur mangelt. Zudem sind sie für die, die den Traum von England nicht aufgeben wollen, eigentlich keine Option. Ein sudanesischer Camp-bewohner, der am Montag noch in Calais ausharrte, bringt es auf den Punkt: „Es gibt nichts Gutes am Dschungel. Aber man ist zumindest nahe an England.“

Philippe Wannesson, seit Jahren in der Unterstützerszene von Calais aktiv, sieht noch eine andere Dimension: In erster Linie gehe es nicht darum, ob der „Dschungel“ zerstört wird oder nicht. „Entscheidend ist eine Lösung, die den Bedürfnissen der Menschen entspricht. Es ist klar, dass Migranten hierhin zurückkommen werden. Und dann werden sie weniger haben als den Dschungel. Dies ist das Einzige, was sie haben.“

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4 Kommentare

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  • Der Artikel suggeriert, Frankreich möge diesen Menschen, die ich als enttäuschte Liebhaber Englands bezeichnen möchte (allerdings sehr uneinsichtige), Frankreich möge ihnen ein Lager und eine Infrastruktur zur Verfügung stellen um dort weiter ein Leben als hoffende enttäuschte Liebhaber oder Sehnsüchtige leben zu können. Wie konnte es dazu kommen, dass tausendfach und offensichtlich von England nicht gewollte menschen weiter an dieser Phantasie, dies sei ihr Land, festhalten? Ist das nicht eine Art von Verstocktheit, am scheinbar Optimalen festzuhalten und nach so vielen Monaten nicht den Blick zu wenden in Richtung einer Zukunft, die nicht optimal ist, aber möglicherweise erträglich im Vergleich zu den Lebensumständen, denen sie entronnen sind. Ich wage es, in der taz zu sagen, diese flüchtlinge brauchen eine Umschulung als Flüchtlinge. In Richtung Pragmatismus, mehr Offenheit, Neugier. Sie wollen mehr selbst bestimmen als die meisten von uns, die wir hier leben, bestimmen können.

    Wir bestimmen das meiste nicht selbst. Vieles ist Zufall, mit dem man sich aber durchaus arrangieren kann oder muss. Sogar Kinder überwinden irgendwann ihre Trotzphase.

    • @Wolfgang Hanspach:

      Ihr Beitrag suggeriert ziemlich viel Empathielosigkeit. Wieso stören Sie sich denn an den Phantasien und Hoffnungen dieser Flüchtlinge? Können Sie sich ausmalen, was die bereits durchgemacht haben? Sollte man ihnen nicht einfach den Traum erhalten? Umschulung als Flüchtling? Wie wäre es, wenn Sie erst mal eine Schulung zu einem Flüchtling machen?

    • @Wolfgang Hanspach:

      Man kann es aber auch anders sehen: wo sollen die geflüchteten denn sonst hin?

      Zurück können und wollen viele nicht. Nach links oder rechts abbiegen (Belgien, Niederlande, Deutschland) ist auch keine option, da man die Menschen zurück nach Frankreich schicken würde (Stichwort dublin- Verordnung). Die Chance, in frankreich Asyl zu bekommen, tendiert für die meisten gegen Null. Bleibt nur der Weg nach vorn.

    • @Wolfgang Hanspach:

      Wie blind (oder trotzig) muss man sein, um das Offensichtliche so wenig sehen zu können wie Sie?

       

      Dass Sie und viele andere Europäer ihre Hoffnungen und Träume längst begraben und sich abgefunden haben mit den (Macht-)Verhältnisse, ist noch kein Grund, den (Möchtegern-)Migranten das selbe traurige Schicksal zu wünschen. Diese Leute lieben ja nicht England. Sie lieben die Idee, dass sie womöglich eine Zukunft haben, dass sie es schaffen können - was immer es auch sei. Im Übrigen können die Briten und ihre Regierung die Flüchtlinge gar nicht enttäuschen. Von der Regierung und den eingeborenen Briten haben sie sich nie etwas versprochen. Es sind Familienangehörige, Freunde und Bekannte, die schon in England leben, auf die sie hoffe. Diese Leute konnten sie noch gar nicht enttäuschen, weil die britische Regidrung und ihre Wähler das bisher verhindert haben.

       

      Aber schon klar: Ein Untertan wie Sie, für den die jeweilige Regierung tatsächlich das ganze Land repräsentiert, kann solche Feinheiten natürlich nicht erkennen.