Stimmen zur Räumung des „Dschungels“: „Das Einzige, was sie haben“
Die Lebensbedingungen im Camp sind unerträglich, doch die Flüchtlinge sind wenigstens nah an England. An den Aufnahmezentren gibt es bereits Kritik.
Warum aber wollen Menschen trotz aller Probleme, aller Entbehrungen und der alltäglichen Unerträglichkeit des Lebens im „Dschungel“ diesen Zustand erhalten? Es gibt ein Foto aus dem Jahr 2009, als ähnlich wie heute vor den Augen der Weltpresse das damalige – freilich wesentlich kleinere – Camp geräumt und planiert wurde. Es zeigt afghanische Migranten mit einem Transparent, auf dem „Der Dschungel ist unser Zuhause“ steht. Zugrunde liegt der elementare Wunsch, eine wenn auch noch so ärmliche menschliche Behausung zu erhalten.
Mindestens ebenso wichtig ist aber die Funktion, die er für die Transitmigranten hat: Der „Dschungel“ befindet sich just an der Stelle, von der aus der letzte Schritt erfolgen soll, herüber ins mythisch überhöhte Vereinigte Königreich. Und genau hier bietet er zumindest ein Minimum an Infrastruktur, Essen, Kleidung, Zugang zu Informationen, und nicht zuletzt Austausch und ein soziales Umfeld, gerade durch die Restaurants und Geschäfte, in denen Bewohner zusammenkamen. Gerade der Gemeinschaftsaspekt ist nicht zu unterschätzen in einem Alltag, der im Zeichen zunehmend hoffnungsloserer Versuche steht, die andere Seite des Kanals zu erreichen.
Ein Londoner Demonstrationsaufruf für den Tag der Räumung bringt die Ambivalenz auf den Punkt: „Niemand sollte unter solchen Bedingungen leben müssen, aber sie zu zerstören ohne adäquate Unterbringung und Unterstützung für alle, die dort leben, ist unmenschlich und wird unnötiges Leiden verursachen.“
Die Kritik an den Aufnahmezentren, in die die Flüchtlinge von Calais in diesen Tagen gebracht werden, zielt just in diese Richtung: Es gibt bereits erste Berichte, dass sie zu abgelegen liegen und es abgesehen vom Dach über dem Kopf an sozialer Infrastruktur mangelt. Zudem sind sie für die, die den Traum von England nicht aufgeben wollen, eigentlich keine Option. Ein sudanesischer Camp-bewohner, der am Montag noch in Calais ausharrte, bringt es auf den Punkt: „Es gibt nichts Gutes am Dschungel. Aber man ist zumindest nahe an England.“
Philippe Wannesson, seit Jahren in der Unterstützerszene von Calais aktiv, sieht noch eine andere Dimension: In erster Linie gehe es nicht darum, ob der „Dschungel“ zerstört wird oder nicht. „Entscheidend ist eine Lösung, die den Bedürfnissen der Menschen entspricht. Es ist klar, dass Migranten hierhin zurückkommen werden. Und dann werden sie weniger haben als den Dschungel. Dies ist das Einzige, was sie haben.“
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kanzler Olaf Scholz über Bundestagswahl
„Es darf keine Mehrheit von Union und AfD geben“
Weltpolitik in Zeiten von Donald Trump
Schlechte Deals zu machen will gelernt sein
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Emotionen und politische Realität
Raus aus dem postfaktischen Regieren!
Einführung einer Milliardärssteuer
Lobbyarbeit gegen Steuergerechtigkeit
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart