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Stickstoffdebatte in den NiederlandenStreit über Umweltschutz

Die Niederlande treffen Maßnahmen um Stickoxide zu senken. Das neue Tempolimit ist nur eine davon. Das führt zu heftlgen Verteilungskonflikten.

Autobahn und Schnellzug in den Niederlanden: Es geht jedoch um mehr als Geschwindigkeitsbegrenzung Foto: Panthermedia/imago

Amsterdam taz | Die neue Höchstgeschwindigkeit auf niederländischen Autobahnen – tagsüber 100 Stundenkilometer – schlägt hohe Wellen. Während der Automobilistenverband ANWB die am Mittwoch verkündete Maßnahme schweren Herzens akzeptiert, titelt die Boulevardzeitung Telegraaf tags darauf mit dem deutschen „Hohn über 100“. Der Bund der Autohändler und -werkstätten (BOVAG) nennt die Maßnahme ineffektiv, der rechte Oppositionspolitiker Geert Wilders sieht gar einen „Hochverrat am Autofahrer“ und warnt: „Bald dürfen wir nur noch Lastenfahrrad fahren.“

Hinter dem symbolpolitischen Gehalt des Themas lauert ein wesentlich größeres Problem: die niederländische Stickstoff-Debatte, die seit Wochen die politische Agenda in Den Haag dominiert. Premierminister Mark Rutte spricht von „einer Krise beispiellosen Umfangs“ und der größten Herausforderung seiner neunjährigen Amtszeit.

Das liegt nicht nur daran, dass das Tempolimit von 130km/h bislang eines der Steckenpferde seiner marktliberalen Partei VVD war. Vielmehr führt die nachhaltige Umgestaltung der Wirtschaft zu einem Verteilungskonflikt, in den sich Ruttes Mitte-rechts-Koalition immer tiefer verstrickt, und der ihr durchaus gefährlich werden kann.

Zugrunde liegt diesem ein Urteil des höchsten Den Haager Verfassungsgerichts vom Mai. Demnach verstößt der bisherige pragmatische Ansatz, Genehmigungen für stickstofffreisetzende Aktivitäten mit Naturschutzmaßnahmen zu kompensieren, gegen EU-Recht. Der niederländische Stickstoffausstoß ist relativ gesehen der höchste in Europa. Der Agrarsektor mit seiner intensiven Viehzucht ist für den größten Teil verantwortlich, gefolgt von Verkehr und Industrie.

Stillstand bei 18.000 stickoxidfreisetzende Projekten

Seit Wochen wurde in Den Haag fieberhaft an einem Maßnahmenpaket gefeilt, um den Stickstoffausstoß deutlich zu reduzieren. Unterdessen liegen 18.000 stickoxidfreisetzende Bau- und Infrastrukturprojekte im Land still, darunter Neubaugebiete, Straßen oder der neue Flughafen in Lelystad, der den überfüllten Schiphol Airport bei Amsterdam entlasten soll. Das wiederum ist nicht nur wegen der Wohnungsnot heikel, sondern auch wegen des nahenden Endes des jüngsten Wirtschaftsbooms.

Welche Konflikte aus dieser Konstellation entstehen, wurde in diesem Herbst mehr als einmal deutlich: die Democraten66 (D66), progressiver Juniorpartner der Koalition, brachten eine Halbierung des Nutzviehbestands ins Spiel – zur Empörung der Bauern, die bei heftigen Protesten darauf hinwiesen, dass etwa auch der Stockoxidausstoß des Flugverkehrs relevant ist. Kurz darauf wiederum demonstrierte der Bausektor an gleicher Stelle in Den Haag, weil man sich überproportional von der Umweltpolitik der Regierung getroffen fühlt.

Diese Streitigkeiten wurden auch am Mittwoch deutlich, als die Koalition ihre Pläne bekannt machte: Neben dem Tempo-100-Limit sollen Bauern künftig weniger eiweißhaltiges Viehfutter verwenden. Auch stellt man 180 Millionen Euro bereit, um ausstiegswillige Schweinezüchter auszukaufen. Ein Notgesetz soll indes gewährleisten, dass essenzielle Projekte zum Straßenunterhalt und Hochwasserschutz ungehindert stattfinden können. Weitere Maßnahmen sind geplant.

Rechtspopulist leugnet „Stickstoff-Krise“

Jesse Klaver, Chef der Oppositionspartei GroenLinks, kritisiert das „Notpaket“ als „komplett unzureichend“. Laut der Tageszeitung Trouw reduziert sich der Stickstoffausstoß damit um 0,6 Prozent, was immerhin den Neubau von 75.000 Wohnungen ermöglicht. Trouw zitiert die Universität Wageningen, der zufolge für „strukturelle“ Neubau-Aktivitäten die Stickstoff­emissionen halbiert werden müssten. Dabei wird unweigerlich die Landwirtschaft wieder ins Blickfeld geraten.

Der Herbst 2019 bietet damit einen Vorgeschmack auf die kommenden Verteilungskonflikte – nicht nur in den Niederlanden. Und nicht zuletzt zeigt sich, wie schnell und polarisierend sich diese aufladen. Während Ruttes Koalition immer mehr unter Druck gerät, twittert der rechtspopulistiche Shootingstar Thierry Baudet, es gebe „überhaupt keine Stickstoff-Krise“, sondern nur ein „selbstgemachtes Problem verkehrter Regel-Gebung“. Dadurch, dass EU-Kommissarin Elżbieta Bieńkowska im niederländischen TV das Tempo-Limit ausdrücklich begrüßte, dürfte EU-Gegner Baudet sich bestätigt sehen.

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7 Kommentare

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  • Tempolimit 130 ist das Projekt derer, die beim Spurwechsel nicht blinken und keine Abstände einhalten - das klappt am Besten, wenn alle Anderen genau MEINE Wunschgeschwindigkeit fahren. Für Umweltschutz und Sicherheit ist es bestenfalls wirkungslos.

    Tempo 100 ist die Grenze, ab der sich eine Regelung lohnen würde. Ginge es neben Umweltschutz auch um Sicherheit, dann Tempo 80. Das ist dann aber viel zu langsam, nein, es muß 130 werden, weil ... "ICH fahre ja immer die optimale Geschwindigkeit, alle Anderen sind böse Raser oder lahme Schnecken".

  • Ich bin mir ziemlich sicher, dass Stickstoff nicht das Problem ist. Es geht doch wohl um Stickoxide, also NOx! Im Artikel wird aber oft von Stickstoff gesprochen, was ja nur das Element N bzw häufig seine natürliche Form N2 beschreibt (70% unserer Atmosphäre, wir erinnern uns an die 5. Klasse ca.). Das sollte man dann schon korrekt schreiben, sonst sieht das nicht sehr professionell aus.

    • 0G
      07954 (Profil gelöscht)
      @Prpgndhi:

      Ja stimmt, warum wir bei Pisa so schlecht abschneiden hat schon Gründe.

  • 0G
    06955 (Profil gelöscht)

    #offtopic Oh, wenn ich diesen schicken blaugelben Zug sehe, will ich gleich mal wieder rüber in die Niederlande. Geht aus Ostfriesland nur nicht mehr so gut, seit die Friesenbrücke kaputt ist. Da das eine EISENBAHNbrücke auf DEUTSCHER Seite ist, hat die Reparatur/der Ersatz leider keine Priorität. Man sollte mal so pseudomäßig eine Autospur antäuschen, dann wäre das Ding schon eine Woche nach Defekt repariert gewesen.

    • @06955 (Profil gelöscht):

      Auf der Strecke zu meiner Mutter war eine Autobrücke defekt. Nach jahrelanger einspuriger Regelung wurde dann die Brücke saniert, jeder Arbeiter bekam mutmaßlich Morgens eine Valium. Jetzt wurde seit mehr als einem Jahr die neue Brücke freigegeben, aber Tempolimit wegen Baustellenausfahrt, ein Rentner schaufelt die Sandrampe der Behelfsbrücke auf den LKW, der muß alle paar Tage mal da abfahren.

  • Immer deutlicher wird das Politikversagen der vergangen Jahrzehnte, dass darin bestand und nachhaltig weiterhin besteht, aus den Erkenntnissen über die sich lange abzeichnenden Folgen unserer ökonomischen Prioritätensetzung, keine Lehren zu ziehen. Es wurden und werden Illusionen geweckt, dass ein ewiges Weiter so möglich sei, ohne dass Veränderungen im Alltag des Einzelnen oder für die Wirtschaft zu befürchten seien.



    Die zunehmende Kritik an den notwendigen politischen und gesellschaftlichen Veränderungn, mündet in der gegenwärtigen Gefahr des Auseinanderbrechens des gesellschaftlichen Gefüges. Sie ist eine zwangsläufige Folge, denn es wird für Jedermann/frau deutlich, dass diese Illusionen nur Illusionen waren und sind. Nicht nur in Holland, überall spüren die Menschen, dass doch Veränderungen notwendig sind, und sie davon betroffen sein werden. Sie sind aber darauf nicht vorbereitet worden und ihre soziale Fallhöhe ist permanent gestiegen.

    Die absolute Absurdität besteht nun darin, dass sich der gesellschaftliche Protest nach Rechts und Rechtsaußen wendet, also auf die Kapitalseite, die ursächlich verantwortlich für die Probleme ist. Die Kapitalseite hat weder Stickoxidfilter, die sie in Kühe und Schweine einbauen kann, aber viel weniger Hemmungen, die absehbar notwendigen Veränderungen, mit harten Repressionen gegen einzelne Bevölkerungsteile durchzusetzen. Das ist noch nie gut ausgegangen!

  • Das ganze zeigt gut, wie durchdacht und auch geschickt Regierungen in den kommenden Jahren handeln müssen, um die Mehrheit der Bevölkerung beim Thema Umweltschutz mitzunehmen. Sonst hat man Ruck-Zuck unerwünschte Nebenwirkungen.