Stickstoffdebatte in den Niederlanden: Streit über Umweltschutz
Die Niederlande treffen Maßnahmen um Stickoxide zu senken. Das neue Tempolimit ist nur eine davon. Das führt zu heftlgen Verteilungskonflikten.
Hinter dem symbolpolitischen Gehalt des Themas lauert ein wesentlich größeres Problem: die niederländische Stickstoff-Debatte, die seit Wochen die politische Agenda in Den Haag dominiert. Premierminister Mark Rutte spricht von „einer Krise beispiellosen Umfangs“ und der größten Herausforderung seiner neunjährigen Amtszeit.
Das liegt nicht nur daran, dass das Tempolimit von 130km/h bislang eines der Steckenpferde seiner marktliberalen Partei VVD war. Vielmehr führt die nachhaltige Umgestaltung der Wirtschaft zu einem Verteilungskonflikt, in den sich Ruttes Mitte-rechts-Koalition immer tiefer verstrickt, und der ihr durchaus gefährlich werden kann.
Zugrunde liegt diesem ein Urteil des höchsten Den Haager Verfassungsgerichts vom Mai. Demnach verstößt der bisherige pragmatische Ansatz, Genehmigungen für stickstofffreisetzende Aktivitäten mit Naturschutzmaßnahmen zu kompensieren, gegen EU-Recht. Der niederländische Stickstoffausstoß ist relativ gesehen der höchste in Europa. Der Agrarsektor mit seiner intensiven Viehzucht ist für den größten Teil verantwortlich, gefolgt von Verkehr und Industrie.
Stillstand bei 18.000 stickoxidfreisetzende Projekten
Seit Wochen wurde in Den Haag fieberhaft an einem Maßnahmenpaket gefeilt, um den Stickstoffausstoß deutlich zu reduzieren. Unterdessen liegen 18.000 stickoxidfreisetzende Bau- und Infrastrukturprojekte im Land still, darunter Neubaugebiete, Straßen oder der neue Flughafen in Lelystad, der den überfüllten Schiphol Airport bei Amsterdam entlasten soll. Das wiederum ist nicht nur wegen der Wohnungsnot heikel, sondern auch wegen des nahenden Endes des jüngsten Wirtschaftsbooms.
Welche Konflikte aus dieser Konstellation entstehen, wurde in diesem Herbst mehr als einmal deutlich: die Democraten66 (D66), progressiver Juniorpartner der Koalition, brachten eine Halbierung des Nutzviehbestands ins Spiel – zur Empörung der Bauern, die bei heftigen Protesten darauf hinwiesen, dass etwa auch der Stockoxidausstoß des Flugverkehrs relevant ist. Kurz darauf wiederum demonstrierte der Bausektor an gleicher Stelle in Den Haag, weil man sich überproportional von der Umweltpolitik der Regierung getroffen fühlt.
Diese Streitigkeiten wurden auch am Mittwoch deutlich, als die Koalition ihre Pläne bekannt machte: Neben dem Tempo-100-Limit sollen Bauern künftig weniger eiweißhaltiges Viehfutter verwenden. Auch stellt man 180 Millionen Euro bereit, um ausstiegswillige Schweinezüchter auszukaufen. Ein Notgesetz soll indes gewährleisten, dass essenzielle Projekte zum Straßenunterhalt und Hochwasserschutz ungehindert stattfinden können. Weitere Maßnahmen sind geplant.
Rechtspopulist leugnet „Stickstoff-Krise“
Jesse Klaver, Chef der Oppositionspartei GroenLinks, kritisiert das „Notpaket“ als „komplett unzureichend“. Laut der Tageszeitung Trouw reduziert sich der Stickstoffausstoß damit um 0,6 Prozent, was immerhin den Neubau von 75.000 Wohnungen ermöglicht. Trouw zitiert die Universität Wageningen, der zufolge für „strukturelle“ Neubau-Aktivitäten die Stickstoffemissionen halbiert werden müssten. Dabei wird unweigerlich die Landwirtschaft wieder ins Blickfeld geraten.
Der Herbst 2019 bietet damit einen Vorgeschmack auf die kommenden Verteilungskonflikte – nicht nur in den Niederlanden. Und nicht zuletzt zeigt sich, wie schnell und polarisierend sich diese aufladen. Während Ruttes Koalition immer mehr unter Druck gerät, twittert der rechtspopulistiche Shootingstar Thierry Baudet, es gebe „überhaupt keine Stickstoff-Krise“, sondern nur ein „selbstgemachtes Problem verkehrter Regel-Gebung“. Dadurch, dass EU-Kommissarin Elżbieta Bieńkowska im niederländischen TV das Tempo-Limit ausdrücklich begrüßte, dürfte EU-Gegner Baudet sich bestätigt sehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Anbrechender Wahlkampf
Eine Extraportion demokratischer Optimismus, bitte!
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos