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Sterbende Schulen im OstenKlassenkampf in Sachsen

Nicht genügend Kinder: keine Schulklasse. Dieser Logik wollten einige in Seifhennersdorf nicht folgen. Das Land Sachsen sanktioniert den Eigensinn.

Den Streit um die Seifhennersdorfer Mittelschule muss das Bundesverfassungsgericht klären. Bild: dpa

SEIFHENNERSDORF taz | „Herzlich willkommen zum Tag der offenen Tür!“, steht auf einem Plakat, Schüler stehen lachend darunter, bunte Wimpel flattern arglos. Doch dieser sonnige Nachmittag birgt die nächste Provokation. Es könnte auf dem Plakat auch heißen: „Lasst unsere Schule in Ruhe!“ Oder: „Dresden ist schuld!“

Inzwischen ist jeder Tag hier Protest, und ein Tag, der die Tür offen hält, besonders. Denn eine Schule, die geschlossen werden soll wie tausend sächsische Schulen zuvor, deren Räume sich leeren, wirbt um neue Schüler, um Nachwuchs, der selten geworden ist.

„Weniger Kinder, weniger Schulen“, so lautet die Gleichung des Freistaates. Doch seit September 2012 wird in der Seifhennersdorfer Mittelschule diese Vorgabe unterlaufen. Regulär werden hier noch achte, neunte und zehnte Klassen unterrichtet. Sechste und siebte Klassen fehlen schon, diese Kinder lernen bereits in anderen Schulen.

Die Provokation ist die Klasse fünf. Eine Klasse, unterrichtet von verrenteten und freiberuflichen Lehrerinnen und Lehrern, korrekt nach sächsischem Lehrplan, aber ohne Erlaubnis des Kultusministeriums. Eine illegale fünfte Klasse, ein Rechtsbruch durch renitente Eltern und dreizehn Kinder – für die Staatsregierung eine Rebellion, in Deutschland beispiellos, für Seifhennersdorf ein Akt der Selbstbehauptung. Vielleicht der letzte.

Eltern, Großeltern und Kinder sind gekommen. Ein Alter hat sein Moped lange über verschneite Wege gelenkt, nur um dabei zu sein, wenn eine Schule aufbegehrt. Später wird er die Rebellion wortreich loben, jetzt empfängt ihn aus den Flurlautsprechern Jethro Tull. Lehrer präsentieren ihre Kabinette, Schüler lassen kleine Blitze zucken, Mütter staunen, Jugendliche hängen auf Bänken ab - es ist eine Mischung aus Schulnachmittag und Jugendclub. Und Andreas Herbig blüht auf.

Herbig, ein drahtiger Typ, ist über die Treppen gehetzt, hat Hände geschüttelt, Kaffee ausgeschenkt, Interviews gegeben. Seine Tochter Sophie ist eine der Fünftklässler. Der 51-Jährige ist der Sprecher der „Schulrebellen“. Seine Botschaft: Die Mittelschule ist eine Schule mit Zukunft, der Unterricht in der fünften Klasse vollwertiger Unterricht, und die Lehrer sind erfahrene Lehrer.

Herbig sitzt jetzt etwas abseits im „illegalen“ Lehrerzimmer, konzentrierter Blick, irgendwie geladen. Die Entschlossenheit teilt er mit den anderen Eltern, die Anspannung auch. Die Belastung ist groß. Ein Teil der Eltern ist abgesprungen, von anfangs 23 Kindern sind noch 13 dabei. Familien erhielten im Herbst Bußgeldbescheide über je rund 600 Euro wegen Verletzung der Schulpflicht.

Was macht rechtschaffene Eltern zu Gesetzesbrechern? Andreas Herbig hat sich über den Tisch gebeugt. Angefangen hat alles mit der Schulanmeldung vor einem Jahr. Denn obwohl die Mittelschule seit Jahren geschlossen werden soll, können Eltern ihre Kinder weiterhin hier anmelden. Wenn die Mindestzahl von vierzig Kindern erreicht wird, verlängert sich die Galgenfrist. Wenn nicht, kommen sie auf andere Schulen.

Zu früh gefreut

Es ist ein zäher Kampf um Kinder – und um die Zukunft einer 4.000-Einwohner-Stadt im äußersten Südosten Sachsens. 2012 siegten die Eltern. So schien es. Sie präsentierten zum Anmeldeschluss 41 Kinder, und die neu ernannte Kultusministerin Brunhild Kurth sagte, dann komme die fünfte Klassenstufe auch zustande. Nach zwei vergeblichen Jahren endlich Nachwuchs für die Mittelschule.

Der Jubel kam zu früh. Drei der Kinder erhielten im Sommer eine Empfehlung fürs Gymnasium, die Mindestzahl war unterschritten, und an einer fünfter Klasse, so hieß es aus dem Kultusministerium, bestehe kein "öffentliches Interesse" mehr.

War es Frust? Wehmut? Zum Schulanfang haben sich die Familien in der Mittelschule versammelt, haben ihren Fünftklässlern kleine Schultüten überreicht, nichts Bedeutendes, Süßigkeiten. Es wurde ein Aufruhr.

Wisst ihr, was? Wir bleiben hier, so haben die Eltern zueinander gesprochen, erinnert sich Herbig. Den Schulraum zu finden war kein Problem. Die Schule gehört der Stadt, Bürgermeisterin und Stadtrat standen von Anfang an hinter den Eltern. Altgediente Lehrer meldeten sich, andere brachten Schulmaterial. Anita Matitschka, die dreißig Jahre hier unterrichtete und seit 2005 Rentnerin ist, wurde wieder Klassenlehrerin.

Der Retter der Entrechteten

Kein öffentliches Interesse? Es rumort in Seifhennersdorf. Die Oberlausitz war immer ein spezielles Stück Sachsen, war Grenzland, gehörte zur böhmischen Krone und kam erst im 17. Jahrhundert zu Kursachsen. Die neuen Untertanen sprachen nicht den sächsischen Singsang, ihre rollende Aussprache war kaum zu verstehen, ihre Gasthäuser nannten sie Kretscham, und die unübersichtliche Grenze begünstigte Schmuggel und Räuberei. Auf einen sind sie besonders stolz. Der Räuberhauptmann Johannes Karasek raubte die Reichen aus und verteilte die Beute an Arme. So einem errichten sie hier ein Museum. Gleich hinterm Rathaus blickt Karasek, ein bisschen traurig zwar, doch mit Pistole, vom Giebel.

Auch Herbig rollt die Sätze. „Das Vertrauen in die Rechtsstaatlichkeit ist weg, und das Schlimme ist, dass die Kinder das auch mitbekommen“, sagt er. Warum werden sie behandelt wie Untertanen? Sie wollen doch nur gute Bildung für ihre Kinder - hier im Ort, damit die Jungen bleiben. „Schluss mit dem Ausbluten der ländlichen Gegend!“, ruft Herbig wütend. Draußen kommt Klassenlehrerin Anita Matitschka vorbei, eine zierliche Frau. Der Unterricht sei ganz normal, sagt sie. „So wie ich das früher auch gemacht habe.“

Was das allerbeste Engagement nicht verhindern kann – die Kinder sind in eine Mühle geraten. Im Februar gab es zwei Halbjahreszeugnisse, eines von den ehrenamtlichen Lehrern, eines von der offiziellen Schule, die die Kinder eigentlich besuchen sollen. Das erste enthielt Noten, das zweite listete 88 unentschuldigte Fehltage, „Versetzung gefährdet“.

„Wenn man hier geboren ist, ist das fast Körperverletzung.“ Karin Berndt atmet tief durch. 1957 kam sie hier zur Welt, ging in die Seifhennersdorfer Schule, heute ist sie Bürgermeisterin. Vielen gilt sie als Rädelsführerin. Das mächtige Rathaus wirkt wie ein Unterschlupf. Berndt korrespondiert mit Anwälten und Gerichten, die Aktenordner stapeln sich. Weil sie den Rebellen die Schultüren öffnete, hat das Landratsamt ein Disziplinarverfahren gegen sie eingeleitet.

Die klagende Bürgermeisterin

Karin Berndt war vorher bereits im Namen der Stadt vor das Verwaltungsgericht gezogen, um gegen die Schließung vorzugehen. Warum sollen Kinder über die Dörfer geschickt werden, wenn es hier eine intakte Schule gibt? Warum sollen sie an Bushaltestellen frieren? Warum Lebenszeit in Bussen vergeuden? Die Schulgebäude gehören sowieso den Gemeinden, sie sind Schulträger - Schulträger, die nichts zu melden haben, da sie bei der Entscheidung über Schulschließungen übergangen werden. Kurzum: Zahlen dürfen die Kommunen für ihre Schulen, mitreden nicht – ein Verstoß gegen die kommunale Selbstverwaltung. Karin Berndt schichtet Frage auf Frage.

Abwegig ist ihr Befund nicht. Der juristische Dienst des Landtags hatte bereits 2002 festgestellt, dass ein Paragraf des Sächsischen Schulgesetzes gegen Artikel 28 des Grundgesetzes verstoße, der die kommunale Selbstverwaltung garantiert. „Wissen Sie, das ist seit elf Jahren bekannt!“ Manchmal ringt auch Karin Berndt nach Worten. Sachsen könnte mit dem Schulgesetz gegen die Verfassung verstoßen, Eltern sollen, obwohl die Kinder zur Schule gehen, wegen Schulschwänzerei Bußgeld zahlen, und gegen die Bürgermeisterin läuft ein Disziplinarverfahren. Es gerät gerade etwas aus den Fugen. Im Stadtwappen vor der Wand kreuzen sich zwei Eichenknüppel. Im Tal gärt Empörung.

Eine Renitenz, die sich behauptet. Karin Berndt kommt mit Post vom Verwaltungsgericht. Ihre Klage wegen der Schulschließung ist ausgesetzt, auch die Richter hegen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Sächsischen Schulgesetzes und legten es dem Bundesverfassungsgericht vor. Seifhennersdorf hat Karlsruhe erreicht.

Ein Sieg? Ja. Eigentlich. Vielleicht. Was aber, wenn das Monate dauert? Jahre gar? Lässt sich der Unterricht so lange fortsetzen? Halten die Eltern das aus? Und die Kinder? Werden sie eines Tages mit der Polizei aus der Schule geholt? Solche Bilder wären keine Werbung für Schwarz-Gelb in Dresden, 2014 sind Landtagswahlen. Überhaupt steckt der Freistaat in der Defensive. Inzwischen hat das Amtsgericht die Bußgeldbescheide kassiert. Begründung: Die Schüler kommen der Schulpflicht nach.

Auch Seifhennersdorf hat seine Niederlagen. Vier Kinder wurden am Tag der offenen Tür für eine neue fünfte Klasse 2013 angemeldet, insgesamt sind es jetzt 11. 29 Kinder müssten bis August aufgetrieben werden. Doch woher nehmen? Die Rebellion jedenfalls geht weiter. „Unsere Kinder warten schon darauf, dass endlich die Türen wieder aufgehen“, bekräftigte Andreas Herbig vorige Woche.

Dirk Reelfs, Pressesprecher des Kultusministeriums, gesteht unterdessen im fernen Dresden, man könne den Kampf der Seifhennersdorfer durchaus verstehen. Einerseits. Andererseits werde es im Ort immerhin noch Grundschule und Gymnasium geben. Und die Schließung sei im Kreistag beschlossen. Wolle sich Bürgermeisterin Berndt darüber hinwegsetzen?

Bleibt die Frage, ob das Schulgesetz verfassungskonform ist. Karlsruhe hat den Eingang des Antrags auf Prüfung bestätigt. Das Verfahren werde mindestens drei Monaten dauern, heißt es vage. Sicher ist nur eins – am 12. Juli erhält jedes sächsische Schulkind sein Zeugnis. Nur in Seifhennersdorf vielleicht zwei.

Eine illegale Klasse – für die Staatsregierung Rebellion, für Seifhennersdorf Akt der Selbstbehauptung

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4 Kommentare

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  • OV
    Olav van Gerven

    Kleinere Schulen mögen zunächst die teuere Lösung erscheinen, wenn es um die Umsetzung des Rechts auf Bildung geht. Doch das ist eine sehr kurzfristige Sicht, denn was bedeuten kleinere Klassen genau?

     

    Kleinere, wohnortnahe Klassen mit eine engagierten Elternschaft an eine in der Gemeinsachft integrierten Schule bringen in aller Regel bessere Ergebnisse. SchülerInnen sind zufriedener, ausgeglichener und schließen durch die individuellere Forderung und Förderung besser ab. Damit haben sie bessere Aussichten auf weitere Ausbildung, berufliche Entwicklung und sind somit zukünftige Steuerzahler die einen sinnvollen Beitrag an der Gesellschaft geben können.

     

    Nur das sind Perspektiven die über eine, sogar zwei oder drei, Legislaturperioden der Politiker hinausgehen. Und da liegt der Kern des Problems. Nur wenige Politiker sind in bereit (oder in der Lage?) Entscheidungen mit Rücksicht auf die Konsequenzen zu treffen, die über ihre eigene Legislaturperiode hinaus gehen. Nur wenige, und die Bürgermeisterin dieser Kommune scheint dazu zu gehören.

  • K
    kannes

    Schulschließungen heißen in vielen Fällen mittel-

    bis langfristig je nach Schulwegdauer auch Kommunenschließungen, das heißt Standortverlagerung

    der Gewerbekappazitäten und keine Neuansiedlungen mehr,

    das heißt keine Rückwanderung und Immobilienwertminderung in exorbitanten Ausmaß,

    das heißt Anstieg der Versorgungskosten Wasser und

    Energie, und Schließung kleiner kultureller

    Schätze.

     

    Deutschland braucht bessere Schulen, die auch die

    Kinder seelisch stärken und insgesamt körperlich,

    geistig, künstlerisch und sozial fit machen ohne

    viele und ohne schwere Traumatas und mit solider

    Grundausbildung und eigens gestaltbaren Lernabschnitten, Lernschwerpunkten.

    Jeder Betrieb dort, der den Mut hatte nicht abzuwandern und auf die dortigen Jugendgenerationen

    baut, wird sich bei einer Schulschließung schwer

    vor dem Kopf gestoßen fühlen, spätestens dann wenn

    er den Betrieb an die Nachfolgegeneration übertragen will.

    Schulen müssen die Kinder professioneller ausbilden

    und auch Glück, Sicherheit, Geborgenheit und

    Selbstbewußtsein und Widerstandsfähigkeit, Wachheit, Aufnahmefähigkeit und Vielseitigkeit vermitteln durch Lernen.

    Der Fahrtweg sollte nicht

    länger als 15km betragen, um noch halbweg akzeptable

    Zuzugsresonanz erhoffen zu dürfen.

    Das soziale Klima darf nicht von immer noch mehr Härten gekennzeichnet sein, sondern muss anreizbietend sein.

    Die Bundesländer brauchen auch kleinere Kommunen als

    Wirtschaftsmotoren, einfach um eine demokratisch

    konkurrierende Wirtschaftsstruktur aufzuweisen

    und die Versorgerrolle für die Städte (häufig für Landwirtschaftsprodukte uvm.) dauerhaft auch weiterspielen zu können und eben auch billige

    Entfaltungsräume zu bieten.

    Die Kapitalkonzentration auf die Metropolen bewirkt

    das zuwenig Entscheidungsträger über zuviel Kapital

    verfügen, Filz und Kriminalität werden dadurch

    stark begünstigt und der Anstieg der Lebenshaltungskosten reduziert die Wettbewerbsfähigkeit, der soziale Stress wird

    immer höher geschraubt. Höhere Krankenkosten resultieren. Ältere Leute wären in den Städten sicherlich besser versorgt. Nur diese können es sich immer weniger leisten. In den kleineren Kommunen müßten für zugezogene Rentner dann

    wenigstens entsprechende Betreuungs-und Pflegeangebote mit aufgemacht werden.

    Auch hinzugezogene Rentner bringen Kaufkraftgewinne,

    die häufig nur unverschämten Immobilienbetreibern

    zugeschanzt werden!

    Die Kommunen kämpfen viel zu wenig, um ihre

    Bedeutung.

    Es wirkt alles sehr undurchdacht.

    Auch der Partnerschaftsdruck ist in Städten besonders hoch, was sich sicherlich auch auf

    die Scheidungsraten auswirkt.

    Der Bevölkerungsschwund hat leider wohl auch etwas

    mit dem Sexualverhalten in öffentlichen

    Sozialgruppen zu tun, das bisweilen ausgesprochen

    abstoßend wirkt. Weniger Stress, mehr Stil, mehr

    Feingefühl könnten Wunder bewirken.

  • I
    irmi

    Man liest doch immer wieder das Millionen über Millionen in den Osten gepumpt werden, was haben die mit dem Geld gemacht ?

    Das dort die Steuereinnahmen abgefallen sind ist doch klar, die sind wohl alle dorthin gezogen, wo es höhere Gehälter gibt.

  • P
    Paul

    Dabei gibt es viele -erfolgreiche- Alternativen zu Schulschließungen und stundenlangem Schulbusfahren:

    Gemeinschaftsschule im Ort mit allen Abschlüssen oder gar jahrgangübergreifende Schulen, z.B. Jenaplan, die schon ab 16 Kindern pro Jahrgang gut funktionieren und -natürlich- auch alle Abschlüsse anbieten können.

    Aber das setzt eben eine Regierung voraus, die nicht obrigkeitsstaatlich denkt, sondern für die die Interessen der Menschen ausschlaggebend sind. Davon scheint Sachsen gerade meilenweit entfernt zu sein. Aber immerhin hat sich mal ein sächsisches Gericht auf die Seite der Bürgerinnen und Bürger gestellt, was für sächsische Verhältnisse ja schon bemerkenswert ist. Aber es bleibt dabei: Sachsen braucht eine nachholende Demokratisierung!!

    Viele Grüße aus dem thüringischen Exil.