Stephan Meier über neue Musik: „Musik muss provozieren“
Das Neue Ensemble aus Hannover wird 20. Sein Gründer Stephan Meier erklärt, warum Bach nicht heutiges Leben abbildet.
taz: Herr Meier, Ihr Ensemble spielt seit 20 Jahren Neue Musik. Ist das nicht ein Widerspruch?
Stephan Meier: Nein, denn es geht ja gerade darum, dass Musik nicht etwas außer uns Stehendes ist, das der Vergangenheit angehört. Sondern dass wir sie in unser tägliches Erleben einbinden. Das ist nur möglich mit zeitgenössischer Musik. Nur sie kann unser heutiges Leben spiegeln.
Dann müssen Sie jeden Tag ein neues Programm machen.
Nein, denn die Werke von Bach, Mozart und Beethoven sind ja nicht tot, weil sie alt sind. Aber um sie in Würde altern zu lassen, brauchen wir auch einen natürlichen Prozentsatz an Neuem.
Sie spielen aber gar keinen Bach, Mozart und Beethoven.
Ja. Das liegt aber nicht daran, dass wir sie nicht für würdig halten, sondern dass sie bis zum Überdruss gespielt werden. Um also die Balance zwischen alt und neu im Konzertbetrieb insgesamt zu schaffen, spielen wir Stücke, die zu wenig gehört werden.
Aber die könnten ja aus allen möglichen Epochen stammen.
Ist auch so. Wir spielen auch Schönberg und Boulez, Cage und Stockhausen. Das sind Epochen, die über 100 Jahre zurückliegen. Insofern spielen wir schon viele Epochen – innerhalb der Neuen Musik, versteht sich.
Wie definieren Sie „neu“?
Ich will „neu“ gar nicht definieren. Denn dann müsste ich mein Leben, das ja auch immer „neu“ ist, definieren. Wie soll ich das machen? Es geht auch nicht um „neu“ um jeden Preis. Es dreht sich um Musik, die etwas über meine Fantasie, meine Lebens- und Lustbedürfnisse erzählt.
Bach erzählt das nicht?
Nicht auf eine für mich zeitgemäße Art. Dafür ist zu viel Geräusch in meinem Leben. Zu viel Zerrissenheit, Raumfahrt, elektrische Fensteröffner, als dass ich sagen könnte, das spiegelt sich in Bachs Matthäus-Passion.
Aber wurde Bach nicht zum Neuerer, weil er Alltagsgeräusche seiner Zeit spiegelte?
Nein, seine Revolution war eine andere: „Der Vorhang des Tempels zerriss in zwei Teile, und es tat sich eine Stille auf“, heißt es in der Matthäus-Passion. Es folgt eine Pause, und man hört diese Stille. Und das war damals neu: dass man die Bibel auf deutsch im Konzert hörte statt auf Latein. Und dass die Musik die Stille transportierte, die dramaturgisch dazugehörte. Das ist Abbilden von Leben.
Und heute stellt man eine Waschmaschine ins Konzert, um das Leben abzubilden?
Nein, es geht nicht um das konkrete Alltagsleben, sondern um die Lebensformen, die dahinter stehen. Warum habe ich gesagt: elektrischer Fensterheber? Weil ich heute ans Fenster oft gar nicht mehr herankomme, das ist also eine vermittelte Handlung. Warum habe ich gesagt: Raumfahrt? Wegen der vielen Zeitebenen. Wir planen die künstliche Befruchtung und bekommen gleichzeitig ein Foto von einer fernen Weltraumsonde. Und diese Verschränkung multipler Zeitebenen hört man in der „Spektralmusik“ des 1988 verstorbenen Gérard Grisey wortwörtlich.
Ist „neu“ ein politischer Begriff? Und bedeutet er immer: provokativ?
Zweimal ja! Heute heißt es zwar immer: „Wir leben in der Postmoderne – vergiss das Gesamtkunstwerk, vergiss den politischen Anspruch der Musik. Protesthaltung? Oh Gott, wir brauchen Vermittlung“. Ich glaube, das mit dem Konsens überstrapaziert wird. Musik kann gar nicht anders, als provokant zu sein. Sonst ist sie flaues Labberzeugs. Wenn ich der Musik das Kantige nehme, verschwindet ihre Komplexität und die Dissonanz. Davon ist unser Leben aber voll. Da ist es konsequent, die auch im Konzertsaal zu haben.
Forscher sagen, das Ohr könne wertfrei messen, ob ein Klang harmonisch ist. Beginnt mit der Dissonanz die Provokation?
Ja, aber das ist nicht neu: Bach hat Dissonanzen verwandt, und Beethoven hat in der „Eroica“-Sinfonie dissonante Akkorde wiederholt und bewusst ausgekostet.
Was fesselt Sie so daran?
Da hineinzuhören und sich wie bei der Psychoanalyse bewusst zu werden: Was ist eigentlich disharmonisch? Das kann zu einem riesigen Glücksgefühl führen.
An Beethovens und sogar an Griseys Dissonanzen hat man sich gewöhnt. Verliert die Dissonanz ihr Reizpotenzial?
Tatsächlich muss die Neue Musik mit dieser Relativierung von Disharmonie umgehen. Das ist ihre Hauptaufgabe: Wie kann sie die Komplexität der Welt schildern, ohne in einer beliebigen Langeweile von „Rum-Tack-Buff“ und „Riffel-Riffel-Riffel“ zu verschwinden? Denn es kann ja nicht darum gehen, verschiedene Geräusche hintereinander zu setzen, sondern: Perspektive und Erkennbarkeit hineinzubringen. Wenn einem Komponisten das gelingt, wird’s ganz wunderbar, wenn man erkennt: Jetzt hat sich aus diesem Gekrache, das ich am Anfang hörte, etwas entwickelt.
Aber ist es für Sie als Komponist nicht eine große Verzweiflung, dass Dissonanz als Provokation nicht mehr zieht?
Schon. Aber ich brauche Musik. Ich kann nicht leben mit Adornos Satz: Nach Auschwitz könne man kein Cello mehr spielen. Ich brauche eine Perspektive für die Musik, und deshalb sage ich mir: Gut, dann wähle ich halt eine verzweifelte Perspektive. Immer noch besser als gar keine.