Steigende Zahl von Abtreibungen: Trendwende bei der Verhütung
2017 wurden über 100.000 Schwangerschaftsabbrüche in Deutschland durchgeführt – 2,5 Prozent mehr als 2016. Nun wird über die Gründe gestritten.
101.209. Das ist die Zahl der Abtreibungen, die im Jahr 2017 in Deutschland stattgefunden haben. Es sind 2,5 Prozent mehr als die 98.721 Abbrüche des Jahres 2016. Die Zahl ist damit über die symbolträchtige Schwelle von 100.000 geklettert. Der Berufsverband der Frauenärzte spricht von einer „alarmierenden Zunahme von Schwangerschaftsabbrüchen“. Und tatsächlich ist es interessant, diesem Anstieg nachzugehen. Anstatt das aber einem so wichtigen Thema angemessen sachlich und fundiert zu tun, wird erst mal laut vermutet.
Der Berufsverband der Frauenärzte jedenfalls hat gleich zwei Theorien. Die Zunahme der Abbrüche beobachte man seit 2015, heißt es in einer Pressemitteilung. Und das falle zeitlich zusammen mit zwei anderen Ereignissen: Die Notfallverhütung mit der „Pille danach“ wurde rezeptfrei, und der Prozess zweier junger Frauen gegen Bayer begann.
Eine davon ist Felicitas Rohrer. Sie hatte mit der Pille verhütet und wäre beinahe an einer Lungenembolie gestorben. Rohrer verklagte den Pharmakonzern, warf ihm vor, die Möglichkeit dieser Nebenwirkung nicht deutlich genug auf dem Beipackzettel kenntlich gemacht zu haben. Seitdem, so der Bundesverband der Frauenärzte, wendeten sich immer mehr Frauen von hormoneller Verhütung ab und setzten stattdessen auf unsichere Zyklus-Apps.
„Wir haben von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Apotheker durch ihre eigene Standesorganisation ungenügend auf diese anspruchsvolle Beratung vorbereitet wurden, und das zu einer Zunahme unerwünschter Schwangerschaften führen könnte“, sagt Christian Albring, Präsident des Berufsverbandes.
Jede Stunde zählt bei der „Pille danach“
Ein Vorwurf, den die Apotheker*innen verständlicherweise nicht gerne hören. „Die Behauptung, dass Apotheker nicht zuverlässig zur Pille danach beraten würden, entbehrt jeder Grundlage“, sagt eine Sprecherin der Bundesapothekerkammer auf Nachfrage. Der Berufsverband positioniere sich „erneut pauschal und plakativ gegen Apothekerinnen und Apotheker“. So in etwa klingen die Argumente beider Seiten seit Jahren. Und zwar seit die EU-Kommission die Pille danach 2015 aus der Rezeptpflicht genommen hat.
Empfohlener externer Inhalt
Wie viele Einrichtungen führen Abtreibungen durch?
Die Pille danach kann nicht in jedem Fall eine Schwangerschaft sicher ausschließen: Sie verschiebt nur den Eisprung nach hinten. Hat dieser bereits stattgefunden, kann auch die Pille danach eine Befruchtung des Eis nicht verhindern. Der Berufsverband der Frauenärzte kritisiert nun, dass in den Handlungsempfehlungen der Apotherkammer steht, die Pille danach könne je nach Präparat bis zu drei oder fünf Tage nach dem ungeschützten Geschlechtsverkehr eingenommen werden. Die Pillen wirken aber erst zeitversetzt, zwischen sechs Stunden und zwei Tage nach der Einnahme. Nimmt eine Frau die Pille danach also erst am dritten Tag nach dem ungeschützten Sex, setzt deren Wirkung erst am fünften Tag ein. Wenn es in dieser Zeit zum Eisprung kommt, kann die Frau trotzdem schwanger werden.
Wollen die Frauenärzt*innen also die Rezeptpflicht zurück? Sollen Frauen tatsächlich wieder ohne Termin zu ihrer Ärztin oder ihrem Arzt rennen, am Wochenende gar stundenlang in der Notaufnahme sitzen und auf ein Rezept warten? Und das, wo doch – wie der Berufsverband betont – quasi jede Stunde zählt?
„Wir wollen nicht das Rad der Geschichte zurückdrehen und die Pille danach wieder unter Rezeptpflicht stellen“, sagt der Berufsverband auf Nachfrage. „Aber wir wollen, dass die Frauen in der Apotheke eine ordentliche Beratung bekommen, die sie zuverlässig vor einer Schwangerschaft schützt.“ Ob die Beratung durch die Apotheken aber tatsächlich etwas mit den gestiegenen Schwangerschaftsabbrüchen zu tun hat, darüber gibt es keine Daten, und keine Studie.
Dazu Studien durchzuführen wäre gut
Dann ist da noch die Sache mit den Hormonen. Der Berufsverband rechnet vor, seit dem Prozess gegen Bayer gehe der Verkauf hormoneller Verhütungsmittel jährlich um vier Prozent zurück. Tatsächlich beobachten Frauenärzt*innen in den vergangenen Jahren eine Trendwende, weg von der Pille, hin zu Spiralen, Kondomen oder auch natürlicher Verhütung. Dabei bestimmt die Frau durch Selbstbeobachtung, Temperaturmessen und weitere Methoden ihre fruchtbaren Tage.
Diese Methode gilt oft als unsicher. Wird sie richtig angewandt, kann sie aber gut funktionieren. Allerdings: Natürliche Verhütung ist zeitaufwendig – eine Frau muss ihren Körper wirklich gut kennen, jeden Tag zur selben Zeit ihre Temperatur messen und so weiter. Nur wer sich reinhängt, kann damit sicher verhüten. Weil es aber viel bequemer ist, so die Vermutung des Berufsverbands der Frauenärzte, verlassen sich viele Frauen auf Zyklus-Apps, die anhand verschiedener Daten ihre fruchtbaren Tage ausrechnen.
Und dabei oft daneben liegen. Ende 2017 hatte Stiftung Warentest 23 dieser Apps getestet – und nur drei für gut befunden. Geht man also nur nach der App, kann das gründlich nach hinten losgehen. Doch auch hier gibt es keine Studien, keine Zahlen, nichts, was belegt, dass Nutzerinnen solcher Apps in den vergangenen Jahren rund um die Uhr ungewollt schwanger werden.
Dazu Studien durchzuführen wäre gut. Die Zahl der Abtreibungen ist in den vergangenen Jahren kontinuierlich gesunken. 2010 lag sie noch bei 110.431 – das sind 9.222 Abtreibungen mehr als 2017. Dem Anstieg jetzt gründlich und sachlich auf den Grund zu gehen wäre auch gut. Aber ohne Grundlage Alarmstimmung zu verbreiten ist eher irritierend.
Vor allem sollte man die Zahl nicht isoliert betrachten. Denn auch die Bevölkerung verändert sich. Gab es vielleicht 2017 mehr Frauen im gebärfähigen Alter als im Jahr zuvor? Schaut man genau in die Zahlen des Statistischen Bundesamtes, dann findet man ganz hinten, in Anlage 3: die Abbrüche pro 10.000 Frauen von 15 bis 49 Jahren. Seit 2008 bewegt sich diese Zahl immer irgendwo zwischen 56 und 59 Abtreibungen. Für das Jahr 2017 steht da eine 58.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
Bis Freitag war er einer von uns
Elon Musk und die AfD
Die Welt zerstören und dann ab auf den Mars
Magdeburg nach dem Anschlag
Atempause und stilles Gedenken
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Biden hebt 37 Todesurteile auf
In Haftstrafen umgewandelt
Anschlag von Magdeburg
Aus günstigem Anlass