Steigende Infektionszahlen in Israel: Nachts zu Hause bleiben
In rund 40 Städten dürfen Israelis wegen Corona nachts nicht mehr das Haus verlassen. Ein noch härterer Plan wurde kurzerhand allerdings verworfen.
Gemäß den nun beschlossenen Regeln dürfen die Menschen in den rund 40 Städten nicht mehr als 500 Meter von ihrem Zuhause weggehen. Nicht systemrelevante Geschäfte müssen während der Ausgangssperre geschlossen bleiben. Schulen bleiben komplett geschlossen.
Der Ampelplan dagegen sah vor, als rot definierte Zonen mit besonders hohen Infektionszahlen komplett abzuriegeln, gleichzeitig aber einen landesweiten Lockdown zu verhindern. Betroffen hätte dies zehn Städte und Stadtteile. Eine teilweise Schließung war für weitere 27 Viertel und Ortschaften vorgesehen.
Am vergangenen Mittwoch hatte die Zahl der täglichen Neuinfektionen in Israel den Rekordwert von knapp 3.000 erreicht. In Deutschland wären dies umgerechnet auf die Bevölkerungszahl rund 30.000 Neuinfektionen.
Die Zahl der Todesfälle im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion hatte am Wochenende die Marke von 1.000 überschritten, wie das Gesundheitsministerium am Sonntag mitteilte. Im internationalen Vergleich sind dies immer noch wenig, doch medizinisches Personal warnt davor, dass die Krankenhäuser bereits in etwa zwei Wochen überlastet sein könnten.
Widerstand von Ultraorthodoxen
Gegen den härteren Ampelplan des Corona-Beauftragten kam Widerstand von ultraorthodoxer Seite, denn viele der als rot definierten Stadtteile und Städte sind ultraorthodox geprägt. In einem am Sonntag veröffentlichten offenen Brief beschuldigten vier ultraorthodoxe Bürgermeister Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, ihre Gemeinden „zertrampelt“ zu haben und die Strenggläubigen als „Krankheitsüberträger“ und „Feinde des Volkes“ zu diskreditieren. Die Bürgermeister hatten angekündigt, sich den Lockdown-Vorschriften, sollten sie in Kraft treten, zu widersetzen.
Netanjahu, der mit Massendemonstrationen gegen ihn und mit einer dreifachen Anklage wegen Korruption zu kämpfen hat, ruderte zurück – wohl aus Sorge, auch noch die Unterstützung seiner ultraorthodoxen Koalitionspartner zu verlieren.
Aus der Opposition kam heftige Kritik an der Planänderung: „Der Deal ist einfach. Bibi gibt den Ultraorthodoxen alles, was sie wollen, und als Antwort darauf holen sie ihn aus dem Gefängnis“, sagte der Parlamentsabgeordnete Yair Golan von der Partei Meretz.
Positive Reaktionen kamen dagegen von den Bürgermeistern arabischer Städte. Neben den ultraorthodoxen sind auch arabisch geprägte Gegenden in Israel schwer vom Coronavirus betroffenen. Vor allem große Hochzeiten werden dort für die hohen Infektionszahlen verantwortlich gemacht.
Viele arabische Israelis äußern sich besorgt über eine mögliche Rückkehr zur völligen Abriegelung, vor allem in Hinsicht auf die ökonomischen Folgen. Arabische Israelis – im Durchschnitt bereits ärmer als ihre jüdischen Mitbürger*innen – sind unverhältnismäßig stark von den Folgen der Pandemie betroffen. Die israelische Ökonomie ist schwer angeschlagen. Akkurate Arbeitslosenzahlen gibt es derzeit nicht, zuletzt war von einer Million Arbeitslosen bei neun Millionen Einwohner*innen die Rede.
Sorge vor anstehenden Feiertagen
Auseinandersetzungen gibt es unterdessen noch um die in der zweiten Septemberhälfte anstehenden jüdischen Feiertage, das Neujahrsfest Rosch HaSchana und den höchsten jüdischen Feiertag Jom Kippur. Vertreter*innen des Gesundheitssystems befürchten ein verstärktes Infektionsgeschehen durch Familienfeiern und Gottesdienste. Mehrere Dutzend Ärzt*innen und Wissenschaftler*innen sprachen sich in einem offenen Brief aber gegen einen noch immer nicht ausgeschlossenen Lockdown ein.
Die beiden Vorsitzenden der zwei ultraorthodoxen Parteien, Yaakov Litzman und Arie Deri, ließen verlauten, Netanjahu habe versprochen, dass die Synagogen offen bleiben würden – selbst wenn über die Feiertage ein landesweiter Lockdown verhängt werde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen