Statistik zu ehrenamtlichem Engagement: Zu fantastisch, um wahr zu sein
Ein Experte kritisiert „übertriebene Zahlen“ einer Studie des Familienministeriums. Wandern und Chorsingen zählen neuerdings auch dazu.
„Science-Fiction“ nennt daher der Politik- und Sozialwissenschaftler Professor Roland Roth in einem für die taz geführten Interview des Investigativjournalisten Thomas Leif die Zahlen.
Roth war sachverständiges Mitglied der Expertengruppe des zweiten Freiwilligensurveys von 2004. Er kritisiert die zwei Millionen Euro teure Umfrage von 2014 scharf. Das Bundesfamilienministerium finanziert die Freiwilligensurveys, die nun zum ersten Mal vom Deutschen Zentrum für Altersfragen durchgeführt und im April 2016 veröffentlicht wurde. Die ersten drei Wellen des Freiwilligensurveys wurden in den Jahren 1999, 2004 und 2009 erhoben.
Roth bemängelt die aktuellen Ergebnisse, diese hätten „wenig mit der Realität zu tun“. Sie beruhten eher „auf veränderten Berechnungsgrundlagen“. Roth sagt: „Die Standards für Tätigkeiten, die als freiwilliges Engagement gelten sollen, wurden abgesenkt.“ So würden jetzt selbst „Kicken im Park oder das Wandern und Chorsingen im Altenverein als Beispiele für freiwilliges Engagement aufgeführt“.
Ein weiterer Kritikpunkt: Die Zahlen von 2014 seien mittlerweile veraltet. Dementsprechend könne auch höheres Engagement im Zuge der Flüchtlingshilfe seit 2015 den drastischen Anstieg nicht erklären. Auch andere Berechnungsgrundlagen und Studien, etwa das Sozioökonomische Panel und die Shell-Jugendstudie, sehen diesen drastischen Anstieg nicht.
Professor Roland Roth
Am meisten ärgert Roth, dass sich die Daten aufgrund eines Methodenwechsels nicht mit den Vorgängerstudien vergleichen lassen. Dem widerspricht Claudia Vogel, Mitherausgeberin der Studie: Höhere Lebenserwartung und ein „Engagement-Hype“ erklärten den Anstieg. Sie räumt jedoch ein, dass die Definition von Engagement erweitert wurde: So sei Singen im Chor in die Berechnung eingeflossen, „weil es einen Teamcharakter“ habe.
Roth indessen befürchtet, dass sich Bund und Länder nun auf ihrer Engagementpolitik ausruhen könnten. „Die Neigung zu Hochglanz, zu postfaktischer Selbstdarstellung ist keine Erfindung von Donald Trump.“ Ehrenamtsorganisationen schweigen. „Die direkte Abhängigkeit von öffentlichen Mitteln begünstigt leider eine Kultur, in der Kritik oft nur hinter vorgehaltener Hand vorgetragen wird“, sagt Roth.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israelische Drohnen in Gaza
Testlabor des Grauens
Bundeskongress der Jusos
Was Scholz von Esken lernen kann
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Proteste bei Nan Goldin
Logiken des Boykotts
Bündnis Sahra Wagenknecht
Ein Bestsellerautor will in den Bundestag
Schwedens Energiepolitik
Blind für die Gefahren