Start ins neue Jahr: Vorsätze sind für Systemopfer

Viele Menschen wollen im neuen Jahr etwas besser machen. Als kritischer Kolumnist kann man nur sagen: alles Selbstbetrug für Achtsamkeitsheinis.

Eine Männerhand schlägt einen Wecker aus

Zehn statt drei Mal den Wecker wegdrücken Foto: Rüdiger Rebmann/imago

Haben Sie Neujahrsvorsätze? Ich nicht. Weil Neujahrsvorsätze ein neoliberaler Scheiß für Systemopfer sind. Weil ich ein reflektierter, aufgeklärter, kritischer Linker bin und von meinen Freun­d:in­nen (auch alles reflektierte, aufgeklärte, kritische Linke) so gesehen werden möchte. Neujahrsvorsätze sind voll Selbstoptimierungswahn und wir sind schon optimal, zumindest was unsere Haltung zu Neujahrsvorsätzen angeht. Wir machen nicht mit bei diesem kapitalistischen Arbeiten am Selbst. Für uns ist Arbeit sowieso nicht mehr so wichtig. Wir definieren uns nicht über sie. Wir machen nur das, was notwendig ist, und dann machen wir andere schöne Dinge.

Natürlich möchte auch ich mit dem Rauchen aufhören, mehr lesen, mehr Sport treiben. Aber vor allem möchte ich mich nicht stressen lassen. Deshalb verbiete ich mir Neujahrsvorsätze. Und wenn ich doch schwach werde und mich gegen einen Vorsatz nicht wehren kann, dann darf das zumindest keiner erfahren. Es muss niemand mitbekommen, wie ich mir etwas vornehme, das ich schon am zweiten Tag des neuen Jahres wieder aufgebe.

Zum Glück helfen mir die äußeren Umstände, stark zu bleiben. Ich kann verstehen, wenn ältere Generationen das faul, lethargisch, lustlos oder depressiv finden. Die Welt war vor 30 Jahren bestimmt auch vielversprechender – oder konnte zumindest die Illusion davon aufrechterhalten. Heute lautet das einzige verlässliche Versprechen, dass es nicht besser wird. Das Gute an der schlechten Gegenwart ist, dass sie auch den optimistischsten Selbstbetrügern falsche Hoffnungen verunmöglicht. Zum Glück. Denn nur wer nicht hofft, kann nicht enttäuscht werden.

Dass Neujahrsvorsätze uncool sind, erfahre ich nicht nur in meinem reflektierten, aufgeklärten, kritischen Umfeld, in dem sie tabuisiert sind wie politisch unkorrekte Witze, sondern auch in den sozialen Medien: unter betont lässigen, bewusst unvorteilhaft aufgenommenen Fotos erklären User, warum Neujahrsvorsätze voll der Quatsch sind.

Neue Morgenroutine: Horrornews lesen und drei Kaffee

Wir sind zwar alle lost. Aber die Achtsamkeitsheinis, die auf der anderen Seite der Timeline-Front kämpfen und sich für das neue Jahr ganz viel vorgenommen haben, sind viel loster. Weil ich sie nicht ausstehen kann, mache ich doch eine Ausnahme: Ich nehme mir für 2023 vor, noch unachtsamer zu leben als bisher. Entscheidend dafür ist, wie der Tag beginnt. Ich werde den Wecker im neuen Jahr also zehn statt bisher drei Mal wegdrücken, als allererstes noch im Bett das Smartphone in die Hand nehmen, im Halbschlaf ein paar Horrornachrichten überfliegen und dann stumpf drei Tassen Kaffee in mich reinschütten statt gesund zu frühstücken.

Als endlich 2023 anfing, haben meine Freun­d:in­nen und ich uns dann doch ein gutes neues Jahr gewünscht. Aber halt so gelangweilt wie möglich. Irgendwas muss man ja sagen, auch wenn man kein Systemopfer ist. Natürlich umarmen wir uns nicht.

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Kolumnist (Postprolet) und Redakteur im Ressort taz2: Gesellschaft & Medien. Bei der taz seit 2016. Schreibt über Soziales, Randständiges und Abgründiges.

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