Stalins Terror in Belarus: Die Nacht der erschossenen Dichter
1937 ermordete der sowjetische Geheimdienst 108 belarussische Intellektuelle. Kulturschaffende von heute müssen der Toten aus dem Exil gedenken.

Ihnen war vorgeworfen worden, einer „antisowjetischen national-faschistischen Terrororganisation“ anzugehören. Die Nacht gilt als die finsterste in der Geschichte des Landes. Zur Erinnerung an die Toten veranstalten Aktivisten regelmäßig die „Nacht der erschossenen Poeten“.
Heute, wo viele belarussische Intellektuelle wieder im Exil leben, muss die Gedenknacht in Litauen oder Georgien stattfinden. Ende Oktober kamen dafür in Vilnius zahlreiche Kulturschaffende zusammen, die auf der Bühne nahe dem KGB-Museum gemeinsam Verse der ermordeten Dichter lasen.
Zu den Vortragenden gehörten auch einige im Ausland lebende Vertreter des belarussischen Journalistenverbands BAJ, die noch Anfang des Jahres für freie Meinungsäußerung und das Fortbestehen des Rechts auf Informationsverbreitung kämpften. Im Mai wurde dieses Recht abgeschafft. Die BAJ-Journalisten erinnerten auch an das Schicksal so vieler ihrer Kollegen und lasen die wohl jüngste Lyrik des Abends vor: die ihres Freundes, dem zu 14 Jahren Haft verurteilten Medienmanager Andrei Alexandrow.
Die Parallelen zwischen damaliger Zeit und belarussischer Gegenwart lassen sich nicht leugnen: Neben Friedensnobelpreisträger Ales Bjaljazki sind in Belarus aktuell 33 Journalistinnen und Journalisten inhaftiert, NGOs mussten ihre Arbeit einstellen. Lukaschenko versucht, die Intelligenz zum Schweigen zu bringen. Ein Exiltheater aus dem belarussischen Grodno erinnerte mit Soldaten des Regiments Kastus Kalinowski in einer interaktiven Inszenierung an die Nacht von 1937. Das Regiment kämpft an der Seite der Ukraine gegen den Angreifer Russland. Die in dicke schwarze Mäntel gekleideten Darsteller halten sich gegenseitig an den Armen, die Bretter der Bühne bedeckt mit dichtem Laub, im Hintergrund rot angestrahlte Kreuze und Projektionen von Porträts der Verstorbenen. Viele der Anwesenden rührte die Aktualität der Veranstaltung zu Tränen.
Nie aufgearbeitet
Der älteste Berater der belarussischen Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja, Journalist Franzischak Wjatschorka, plädierte am Rande der Gedenknacht, neben der Politik immer wieder auch Kultur und Bildung und „was uns sonst noch vereint“ in den Blick zu nehmen. „Die Sprache ist eines der wichtigsten Gegengifte des Volkes bei der Verteidigung gegen das russische Imperium, das alle, die Russisch sprechen, als sein Eigentum ansieht. Wir Belarussen wollen nicht zurück in dieses Imperium.“
Das Waldstück nahe der Hauptstadt Minsk, der Ort, an dem die Toten begraben sind, blieb an dem Abend leer. Dort erinnert einzig eine Gedenkstätte an alle zwischen 1937 und 1941 hingerichteten Menschen. Die Verbrechen der stalinistischen Zeit sind in Belarus auf staatlicher Ebene nie verurteilt worden, jegliche Forschung in den 1990er Jahren wurde eingestellt. Die KGB-Archive sind bis heute nicht zugänglich.
Historiker sprechen mittlerweile von mehreren Terrorwellen, denen die damalige belarussische Elite zum Opfer fiel. Die Stalin’sche Säuberung begann bereits Mitte der 1920er Jahre. Sie war auch eine Reaktion auf die Bolschewiki, die gemeinsam mit Kulturschaffenden für die Eigenständigkeit von Sowjetrepubliken warben. Schriftsteller und Dichter trieben diese sogenannte belarussische Wiedergeburt grundlegend an. In den Jahren 1929 bis 1931 wurden sie dafür bestraft.
So starb der wunderbare Lyriker Uladizimir Zhylka Anfang der 1930er Jahre im russischen Wjatka. Kurz zuvor war er trotz seiner Tuberkuloseerkrankung dorthin verbannt worden. Der Dichter und Shakespeare-Übersetzer Uladzimir Dubouka wurde zur selben Zeit verhaftet – an Ort und Stelle im Kreml, wo er als Übersetzer sowjetischer Gesetze ins Belarussische arbeitete.
Manche bedeutenden Lyriker, wie Janka Kupala und Jakub Kolas, kamen davon. Doch in welchem Zustand muss sich Kupala befunden haben, als er nach einem nächtlichen Verhör versuchte, sich das Leben zu nehmen? Er schreibt in seinem Abschiedsbrief: „Majakowski hat sich erschossen, Jesenin hat sich erhängt, ich werde ihnen wahrscheinlich folgen.“ (Wladimir Majakowski, 1893–1930, war ein sowjetischer Dichter und Futurist, Sergei Jesenin, 1895–1925, ein russischer Lyriker; d. Übersetzerin)
„Belarus möchte Teil Europas sein“
Kupalas Porträt hing damals in jeder staatlichen Einrichtung. In den Jahren der „Wiedergeburt“ hatte man ihn auf ein Podest gehoben, er war so etwas wie der erste belarussische Volksdichter. Die Behörden beschlossen also, den Dichter nicht anzurühren, sein Tod hätte die Bevölkerung zu sehr entsetzt. Im Jahr 1942 starb er in einem Moskauer Hotel nach dem Sturz von der Treppe, er war sofort tot. Einiges deutet auf einen Mord hin.
Der systematische Terror ist im kulturellen Gedächtnis von Belarus tief verankert. Hätte es ihn nicht gegeben, wäre dieses Land ein anderes. Die ermordeten Persönlichkeiten haben die Entwicklung der belarussischen Identität beeinflusst.
Tichanowkskajas Berater appelliert während der „Nacht der erschossenen Poeten“ auch an Deutschland. „Ziel muss die Befreiung der zahlreichen Menschen sein, die sich zurzeit im Gefängnis befinden“, sagte er. „Wir hoffen, dass die deutsche Regierung unsere demokratischen Kräfte als strategische Verbündete betrachtet. Belarus möchte Teil Europas sein, Teil der europäischen Zivilisation.“
Aus dem Russischen von Gaby Coldewey
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart