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Städtebau vor 60 Jahren„Sehr urban war das nicht“

Bremens Stadtteil Neue Vahr feiert sein 60-Jähriges. Architekturhistoriker Eberhard Syring über Baukultur, die Überseestadt und das Comeback der Hochhäuser

Genug Freiraum zum Spielen: Die Neue Vahr in den Sechzigern Foto: Archiv b.zb

taz: Herr Syring, die Neue Vahr wird 60 Jahre alt. Ist sie ein positives Beispiel für Städtebau?

Eberhard Syring: Heute würden die Planer nicht mehr so aufgelockert und stattdessen stärker verdichtet bauen. Aber damals war die Vahr nicht ohne Grund eine Pilgerstätte vieler internationaler Architekten. Sie galt sogar als die fortschrittlichste Siedlungsform in Europa. In der Vahr lebten verschiedene soziale Schichten in sogenannten Nachbarschaften. Sehr urban war das nicht, aber die Siedlung wurde auch nach einem ganz anderen Leitbild umgesetzt – dem der „gegliederten und aufgelockerten Stadt“.

In den neunziger Jahren war das Bild negativer. Verschiedenen Medien nannten die Vahr „ein Denkmal edler Einfalt“. Bewerten Sie die Bebauung im Stadtteil ähnlich?

Eine Pauschalkritik an der Konzeption des Stadtteils finde ich primitiv. Es gab schon relativ früh, Mitte der sechziger Jahre, Kritik an dem Bauprojekt. Doch man muss die Umstände seiner Entstehung im Auge behalten: Durch die Kriegszerstörung brauchte Bremen dringend Wohnungen. Bis 1970 war die Stadt im Vergleich zur Vorkriegszeit um rund 150.000 Einwohner angewachsen. Die Bewohner der Neuen Vahr konnten und können mit der Kritik meist wenig anfangen. Sie leben gerne dort und bezeichneten sich selbst stolz als „Vahraonen“.

Eberhard Syring

Jahrgang 1951, ist Professor für Baugeschichte und Architekturtheorie an der Hochschule Bremen sowie Leiter am Bremer Zentrum für Baukultur. Er hat dort intensiv zur Neuen Vahr geforscht.

Bremen benötigt auch heute mehr Wohnungen. War es in den Sechzigern leichter, günstigen Wohnraum zu schaffen?

1956 wurde in Bremen extra ein Gesetz beschlossen, um die akute Wohnungsnot zu beheben. In Bremer Häusern lebten teilweise drei bis vier Familien auf engstem Raum. Auch viele Parzellenhäuser waren bewohnt. Das war ein Wohnproblem, das mit dem heutigen gar nicht vergleichbar ist. Doch es gab auch viel mehr unbebaute Flächen. Heute denken die Planer im Hinblick auf den Urbanitätsgedanken daran, nach Innen zu verdichten. Dabei dürfen aber nicht zu viele Grünflächen vor die Hunde gehen.

Gibt es positive Elemente der Neuen Vahr, die sich Stadtplaner heute noch abgucken können?

Auf jeden Fall: Die öffentlichen Räume zwischen Wohnhäusern waren üppig ausgestattet. Heute wird zwar oft kritisiert, dass die Grünflächen ein „tristes Abstandsgrün“ seien. Aber Kinder haben bis heute in der Vahr riesige Flächen zum Spielen. Insgesamt waren die Außenanlagen hervorragend gestaltet. Viele Leute haben sich in den Sechzigern nach einer Wohnung in der Vahr gesehnt. Dafür sind sie sogar aus dem Ostertor weggezogen. Auch heute sind die Menschen in der Neuen Vahr noch sehr zufrieden, weil es dort viele Entfaltungsflächen gibt.

Können Sie die Abneigung gegen Wohnhochhäuser nachvollziehen?

Wohnhochhäuser sind gerade wieder im Kommen. Die Scheu, diese zu bauen, hatte in den siebziger Jahren eingesetzt und dauerte bis in die Neunziger an. Mittlerweile steht ja auch mit dem Landmark-Tower in der Überseestadt wieder ein neues Gebäude dieser Art. Das Hochhaus hat seine Qualitäten. Auch im Hinblick auf die innerstädtische Verdichtung muss darüber nachgedacht werden, ob wieder mehr in die Höhe gebaut wird.

Wo passen solche Wohnhochhäuser in Bremen hin?

Dort, wo nicht das historische Stadtbild beeinträchtigt wird. Sie können als optische Orientierungspunkte gewinnen. Die Nachfrage, in solchen Häusern zu wohnen, ist nach wie vor groß. Das Aalto-Hochhaus in der Vahr war immer voll ausgelastet. Doch sie sind kein Allheilmittel. Heute brauchen wir ein sehr differenziertes Angebot an Wohnhäusern, weil wir eine viel differenziertere Gesellschaft geworden sind.

Wie bewerten Sie die architektonische Umsetzung der Überseestadt als „Neubaugebiet des 21. Jahrhunderts“?

Die Hauptkritik an der Überseestadt ist, dass es ein von hinten durch die Brust ins Auge eingeführtes Wohnquartier ist. Die attraktive Lage mit Weserblick wurden für Leute bebaut, die sich das leisten können. Dadurch ist natürlich von Beginn an ein Ungleichgewicht entstanden. Doch inzwischen ändert sich das und bis 2025 könnten dort etwa 10.000 Menschen wohnen und noch deutlich mehr arbeiten. Dann kann ein gemischter Stadtteil entstehen. Die öffentlichen Räume sind heute, abgesehen von den Vorzeigepromenaden, noch sehr verbesserungsbedürftig. Auch der Übergang nach Walle an der vielbefahrenen Nordstraße ist sehr schwierig.

Verlief die Einbindung der Neuen Vahr besser als bei der Überseestadt heute?

Früher kritisierte die Öffentlichkeit die Neue Vahr wegen der Randlage. Es hieß: Das ist nur die Grüne-Witwen-Stadt, in die die Leute zum Schlafen fahren. Die Neue Vahr war lange Zeit etwas isoliert. Es hat sehr lange gedauert, bis der Stadtteil durch eine neue Straßenbahnlinie angebunden war. Durch den Druck, schnell Wohnungen bauen zu müssen, wurde zunächst die Infrastruktur vernachlässigt.

Gibt es für Sie Facetten, die die Planer der Neuen Vahr besser gemacht haben als diejenigen in der Überseestadt?

Es gab eine klare Leitvorstellung. In der Überseestadt ist für mich nicht so richtig erkennbar, was dort städtebaulich gewollt ist. Der Masterplan der Überseestadt lässt zwar einiges zu, aber ist für mich nur ein grober Rahmen.

Denken Sie, dass sich in der Neuen Vahr in den kommenden Jahrzehnten einiges wandeln wird und auch wandeln muss?

Das Problem sind die sehr ähnlichen Wohnungstypen. Die Zwei- und Dreizimmerwohnungen dominieren. Die Nachfrage ist derzeit nach kleineren Wohnungen hoch. Deswegen muss es Ergänzungsbauten und Umgestaltungen geben. Es ist doch sehr luftig gebaut. Der Wohnraum kann noch erweitert werden, ohne dabei den Charakter der Siedlung zu zerstören.

Wie kann Bremen noch nach innen wachsen, ohne dabei wertvolle Freiflächen zu opfern?

Es gibt industriell genutzte Flächen, die sich dafür anbieten. Wenn das Kellogg-Werk geht, ist das eine städtebauliche Chance. Auch das Bierbrauen mitten auf einer attraktiven Fläche in der Alten Neustadt muss hinterfragt werden. Kann man Bier nicht genauso gut am Stadtrand brauen? Und in der Überseestadt ist auch noch nicht alles ausgereizt.

Drei Jubiläen, eine Ausstellung: 60 Jahre Neue Vahr (GEWOBA), 50 Jahre Linie 1 (BSAG), 40 Jahre Bürgerzentrum. Einkaufszentrum Berliner Freiheit, ab 4. 9.

Stadtteilfest SaVAHRi, am 9. 9., tagsüber ab 10:30 Uhr am Vahrer See. Geburtstagsfeier ab 18:00 Uhr auf dem Marktplatz Berliner Freiheit mit Musik und Feuerwerk um 22:00 Uhr

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1 Kommentar

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  • Unsere Familie war nach dem Krieg noch zwangseinquartiert.

    Dass heißt, wir wohnten bei einer anderen Familie (Am schwarzen Meer 110), die über die Zwangs-WG nicht besonders glücklich war und dieses Gefühl, unwillkommener Gast zu sein, kenne ich noch von Kindertagen.

     

    Der Umzug in die Neue Vahr Nord war wie ein Lotteriegewinn.:

    Eine eigene Wohnung, eigene Toilette und Bad, Zentralheizung (nie mehr Kohlen schleppen) und ! Müllschlucker ! (das Smartfone der 60er). Und die Fahrstühle waren auch immer einer Erwähnung wert.

     

    Für uns Kinder war es relativ grausam.

    Die Sandkästen waren eher Hundeklos, als Spielplätze (die wenigen Spielplätze waren sehr trist ausgestattet), Rasenflächen durften nicht betreten werden und es gab immer "Meckertanten" und Blockwarte, die auf die Einhaltung der Hausordnungen drängten.

     

    Es war auch eher braun als grün, weil überall noch gebaut wurde und das Grün erst angelegt war, die Bäume waren noch klein und man blickte von einem grauen Haus zum nächsten. Die "Abstandsflächen" waren öde Leere und schon als Kind habe ich mir eine hügelige Gestaltung der Flächen gewünscht, kleine Wälle und Wäldchen, damit man etwas zum Verstecken und das Auge etwas zum Festhalten hat.

     

    Eine der großen Schwächen der Neuen Vahr war, dass man intuitiv gefühlt hat, in einer Planung zu wohnen.. Es gab geplante Zentren, hier wird gehandelt, sozial interagiert (hier ist es gemütlich) und Grünanlagen (hier ist es schön). aber die befohlende Gemütlichkeit und Schönheit kam der gewachsenen nie wirklich nahe. Däck´s Bauerndiele (Resthof) war eine gemütliche Kneipe, während Kneipen im Neubau nie eine wohnliche Stimmung ausstrahlten - ähnlich wie später in der Uni, wenn ein Raum im Betonbau mit Girlanden geschmückt wurde, blieb es immer noch ein öder Betonbau.

     

    Heute hat die Überseestadt ähnliche Schwächen. Als Arschlochmagnet brauchbar, für Durchschnittsverdiener, die in gewachsener Struktur mit Bäcker, Supermarkt und Schlachter um die Ecke leben wollen, unmöglich.