: „Städte sollten Zukunftsbilder entwickeln“
Boden ist knapp. Trotzdem tun Kommunen und Bauherren oft, als wäre er eine unendliche Ressource. Warum ist das so und wie können wir künftig weniger Fläche verbrauchen? Ein Gespräch mit der Architektin und Lübecker Hochschullehrerin Lydia Rintz über Städte als Lebensraum, konservative Kommunen und Wohnkomplexe aus Tiny Houses
Von Friederike Grabitz
taz: Frau Rintz, Sie sind seit einem Jahr Professorin für Städtebau und Entwerfen an der Technischen Hochschule in Lübeck. Was machen Sie dort konkret?
Lydia Rintz: Wir schauen uns die Typologie der Stadt und die ländlichen Räume in allen Maßstabsebenen an. Dabei nehmen wir eine eigenständige und teils kritische Haltung gegenüber städtebaulichen Projekten ein. Große Themen sind die Umnutzung von Flächen, der demografische Wandel und Mobilität.
Sie haben schon in Berlin, Münster und Zürich gelebt, Städte, die in ihrer Struktur sehr unterschiedlich sind. Wie sehen Sie diese Städte als Architektin?
Mich interessiert die Frage: Wo und wie hat eine Stadt typisch urbane Räume? Wie ist das Ankommen am Bahnhof, wo begegnen sich Menschen, wo entfalten Städte ihre besonderen Qualitäten? Die Innenstädte werden sich wandeln und weniger Handelszentren sein; deswegen stehen sie aber nicht weniger stark im Fokus. Ein Ziel der PlanerInnen sind funktionsgemischte Städte mit kurzen Wegen.
Nach dem Klimaschutzplan der Bundesregierung sollten wir 2020 nicht mehr als 30 Hektar Boden pro Tag versiegeln. Aber 2021 liegen wir noch immer bei 60 Hektar, eine Versiegelung von der Fläche Berlins in nur vier Jahren. Trotzdem sind die meisten neu ausgeschriebenen Baugebiete nach wie vor auf Einfamilienhäuser und Geschosswohnungen zugeschnitten.
Lydia Rintz
37, ist Architektin. Die geborene Hamburgerin studierte in Berlin und Zürich und lehrte in Münster, bevor sie im Herbst 2020 die Professur für Städtebau und Entwerfen an der Technischen Hochschule Lübeck antrat. Gemeinsam mit einem Partner ist sie Inhaberin eines Berliner Architekturbüros.
Wir haben nicht mehr die Durchschnittsfamilie wie vor 100 Jahren, aber wir bauen noch so, als gäbe es sie. Die meisten Städte reagieren nicht auf den veränderten Bedarf, sie denken nicht nutzungsoffen. Es gibt bei den Kommunen eine große Angst vor einer Abwanderung der BewohnerInnen, die das klassische Einfamilienhaus mit Garten wollen. Wir wollen Einfamilienhäuser nicht verteufeln, es muss gute Alternativen geben. Wenn wir zum Beispiel Parkplätze wegfallen lassen, müssen wir den heutigen Pkw-NutzerInnen dafür etwas anbieten. Statt in alten Konzepten zu denken, könnten die Städte neue anbieten, auf der Grundlage guter Modelle. Sie sollten Zukunftsbilder entwickeln.
Dafür müssten die Städte solche Bilder erst einmal haben.
Die Strategie der Zukunft heißt doppelte Innenentwicklung. Das bedeutet, Stadtentwicklung durch bauliche Verdichtung und gleichzeitig mit Blick auf die weitere Qualifizierung des urbanen Grüns zu betreiben. Zum Beispiel werden wir nach der Verkehrswende, wenn es gute ÖPNV-Anbindungen gibt, weniger Stellplätze und Garagen brauchen, die können wir dann umgestalten. Wir werden auch viel mehr Kreislaufwirtschaften nach dem Prinzip „Cradle to Cradle“ denken müssen. Außerdem werden wir Gebäude umnutzen statt sie abzureißen und Flächen entsiegeln.
Boden als knappe Ressource wird immer teurer. Erzeugt das Druck, ihn effektiver zu nutzen, und hilft man damit einer nachhaltigen Flächenplanung?
Nein, weil der Markt sich nicht selbst reguliert. Wir brauchen eine gemeinwohlorientierte, zukunftsweisende Bodenpolitik. Beispiele dafür sind Erbpachtgrundstücke oder der Zwischenerwerb: Gemeinden kaufen Land an und verpachten es weiter. Dann können sie Grundstücke nicht nach dem Preis, sondern nach Konzept vergeben.
Viele PlanerInnen kennen ja die Probleme. Warum gab es trotzdem bisher keine Trendwende bei der Bodennutzung?
Ein strukturelles Problem ist, dass die Legislaturperioden kürzer sind als die meisten Projekte. Was helfen könnte, sind flexible Flächennutzungspläne, die eine Größe für Gewerbe, Landwirtschaft oder Wohnen vorgeben, ohne dass schon feststehen muss, wo diese sein werden. In der Pandemie sehen wir, dass sich Strukturen auch kurzfristig ändern können. Sie hat den Wandel im Einzelhandel beschleunigt, und wegen der Zunahme von Homeoffice haben wir weniger Bedarf an Büroflächen.
Viele alte Menschen leben allein in großen Häusern, weil sie diese nicht verkaufen können oder wollen. Wie erleichtern wir ihnen einen Generationswechsel?
Es wäre gut, sich schon mit 50 Jahren Gedanken zu machen, wie und wo wir später leben möchten. Werde ich noch Treppen steigen können? Lässt sich das Haus in Wohnungen unterteilen? Was nicht so gut funktioniert, ist, MitbewohnerInnen in diese Häuser zu holen. Das finden alle gut, so lange es nicht sie selbst betrifft. Wir können auch für Einfamilienhaus-Siedlungen der 50er- oder 60er-Jahre eine Nachverdichtung prüfen. In Japan zum Beispiel sind manche Einfamilienhäuser nur drei Meter breit.
Sie sagen, PlanerInnen und ArchitektInnen brauchen Visionen. Wo könnten solche Visionen herkommen?
Sie müssten sich trauen, Dinge anders zu sehen. Im Fokus steht die Frage: Wie werden wir leben? Der Werkzeugkasten ist da, nun müssen wir anfangen, mit ihm zu arbeiten. Eines dieser Werkzeuge sind genossenschaftliche Wohnformen. In Zürich gibt es sehr alte, erprobte Genossenschaften. Noch fehlen in den meisten deutschen Kommunen Ansprechpartner dafür. Wien ist der Leuchtturm, was innovative Projekte angeht. In Deutschland gehen Städte wie München oder Hamburg voran. So baut Hamburg bei neuen Projekten immer ein Drittel öffentlich geförderten Mietwohnungsbau mit.
JedeR Deutsche hat heute im Schnitt knapp 50 Quadratmeter Wohnraum. Werden wir uns an den Gedanken gewöhnen müssen, künftig eher im Tiny House als im Wohnloft zu leben?
Drei Zimmer, Küche, Bad – das bildet schon heute für viele Menschen nicht mehr die Lebensrealität ab. Wir könnten den Begriff Tiny House weiter fassen, zum Beispiel als eine Wohneinheit in einem größeren Komplex, mit Gemeinschaftsflächen in der Mitte. Fest steht: Wir werden uns darauf einstellen, weniger Platz zu brauchen. Ich glaube, die jetzige Generation hat schon einen anderen Bezug zu Besitz. Sie folgt viel mehr dem Konzept „Nutzen statt besitzen“. Wie viele Dinge brauchen wir nur alle fünf Jahre, und den Rest der Zeit liegen sie im Keller? Wenn wir mehr leihen, brauchen wir auch nicht mehr so viel Fläche. Auch Wohnraum werden wir künftig viel mehr gemeinschaftlich nutzen.
Sehen Sie in der Gesellschaft einen Trend hin zu gemeinschaftlichem Leben?
Der Trend ist da, und die Wohnmodelle werden nachziehen. Jetzt wäre es wichtig, diesen Projekten so den roten Teppich auszurollen, dass sie weiter wachsen können.
Ihre Vision: Wo und wie leben wir in 50 Jahren?
Wir werden anders wohnen, viele Städte werden mehr Einpersonen-Haushalte haben und gleichzeitig mehr Gemeinschaften. Ich glaube, dass urbane Flächen noch mehr ein Ort der Begegnung und des Austauschs sein werden. Wir werden Dichte als weniger negativ empfinden. Menschen brauchen Dichte, urbane und soziale Dichte, und das wird es noch viel mehr geben als heute.
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