Stadt der Straftaten Neumünster: Im Namen des Vaters
Neumünster, eine Kleinstadt in Schleswig-Holstein, steht in der Kriminalstatistik weit oben. Warum? Ein Tag im Amtsgericht.
Über den Stacheldraht fliegen Vögel. Man erkennt die Justizvollzugsanstalt kaum, über die der Schwarm zieht, vor blauem Himmel rüber zum Amtsgericht – zwei Institutionen, zusammengehalten vom Giebel, vom Backstein, vom Harmlos-Nordischen, nur eine Mauer trennt sie. Ein paar Fahrräder hier, ein paar Mülleimer da.
Und dann die Delikte, die es an diesem Ort zu verhandeln und verbüßen gilt, fließbandartig: Neumünster in Schleswig-Holstein, 77.000 Einwohner. Eine Stadt mit H&M und O2 in der Fußgängerzone, mit Brücken, unter denen die Schwale fließt, mit Müttern, Vätern, die Kinderwagen am Ufer schieben – und einem Ruf als „Rekordhalter in Sachen Kriminalitätsstatistik“. Als „Stadt der Verbrechen“. Mehr Straftaten werden statistisch nur in Frankfurt und Düsseldorf gemeldet.
Was passiert hier im Gericht?
9 Uhr, 17. März, das erste Schicksal des Tages: „Betrug“ steht auf dem Programm, ein treffender Begriff für das, was sich hinter Aktenzeichen 23 Ds 574 Js 26462/15 verbirgt. Beziehungsstress, enttäuschte Liebe. Da ist diese Frau, blond, Tattoo am Arm; da ist dieser Mann, Glatze, die Hose an der Gesäßtasche gerissen, und auch sonst ist eine Menge kaputt, von Versprechen und Schwüren wenig geblieben. Da war man noch zusammen auf Mallorca, keine zwei Jahre ist das her, Septembersonne, Meeresrauschen – und nun sitzt man hier, gefrustet im Sitzungssaal B 035. Sie links, er rechts, zwischen ihnen ein Anwalt, im Rücken eine Schulklasse, die den Prozess verfolgt. Teppichboden, Heizungsluft. Die Gardinen sind zugezogen, die Wände weiß. Vor ihnen, eingerahmt von Staatsanwältin und Protokollantin: ein Richter wie ein Vater.
Bademode für den Mallorca-Urlaub
„Sie sind doch kein 14-jähriges Kind!“, ruft er der Frau zu. Wegen „rechtswidriger Vermögensbeschaffung“ ist sie angeklagt; „Verdunklung“ ist so ein Begriff, der jetzt fällt. „Verschleierung der wahren Identität“. Für knapp 800 Euro soll die Angeklagte Waren auf den Namen des Mannes bestellt haben, bei otto.de, baur.de, bei Grandprix; Möbel, Unterwäsche, Bademode für den Mallorca-Urlaub – einiges davon, nachdem sie schon ausgezogen war, in eine Wohnung nebenan. Irgendwann sind ihm Inkassobriefe „reingeflattert“, sagt der Mann. Irgendwann hat er sie angezeigt.
Irgendwann spielt jeder seine Rolle. Die Frau sagt, „ich stand vor nichts“, „ich hatte doch nichts“; der Richter sagt, „das ist doch Otto und Grandprix scheißegal!“, „ich will wissen, ob Sie für Ihre Fehler einstehen!“, „so funktioniert die Welt nicht!“. Schließlich hat man ein Ergebnis: „Einstellung mit einer Auflage.“ Gefordert werden je hundert Euro, die die Frau an die Versandhäuser zahlen muss. Gefallen sind Sätze, die man sich nicht merken muss – in einem Spektakel, dessen Brutalität vor allem im Unausgesprochenen liegt: diese ganze irrwitzige Entwicklung, die ein Leben zu zweit nehmen kann. Am Ende diskutiert man über Privatinsolvenzen und Mahnschreiben.
„So, raus!“ Akte zu, nächste Tat.
Bianca M., Jahrgang 85, Vorwurf der Unterschlagung. Dreißig Minuten Zeit für eine trockene Alkoholikerin, die im neunten Monat schwanger ist. Soll im Rausch von einem Freund gebeten worden sein, mit seiner EC-Karte seine 500 Euro Sozialhilfe abzuheben. Sie soll sie selbst behalten haben. „Wie kam’s?“ „Weiß auch nicht. Dumme Sache.“ – „Haben Sie gefeiert, getrunken?“ – „Ja.“ – „Sie leben von Hartz IV?“ – „Ja.“ – „Und haben jetzt eine Therapie hinter sich?“ – „Ja, drei Monate.“ – „Wann haben Sie mit dem Trinken angefangen?“ – „Mit 14.“ – „Was haben Sie zuletzt getrunken?“ – „Hauptsächlich Bier.“ – „Wie viel?“ – „Fünf Liter ungefähr. Kurze dazwischen.“ – „Was hat der Alkohol mit Ihnen gemacht?“ – „Ich hab mich wohler gefühlt.“ Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 10 Euro, plus Verfahrenskosten. „Kümmern Sie sich um Ihr Kind, hören Sie mit dem Alkohol auf, gehen Sie zur Therapie. Jeder Mensch hat seine Chance, die hatten Sie jetzt. Das nächste Mal bin ich nicht so nett. So, raus!“
10.30 Uhr, der nächste Angeklagte kommt nicht. Die zwei Frauen, die ihn angezeigt haben, weil er ihnen im Straßenverkehr den Mittelfinger gezeigt hat, sind sauer. „Ich hab extra meine Schicht getauscht“, sagt eine. Toll. „Jetzt hab ich die Spätschicht.“ Keine Angst, der käme nicht ungeschoren davon, antwortet der Richter, ruhige Tonlage jetzt; der Schulklasse rechnet er vor, dass „der Stinkefinger ihn 1.200 Euro kosten wird“. Kurzer Rechtskundeunterricht aus dem Stand, kurze Lästerei über Raser, „dieses ‚Ich bin hier der King of the road‘“ – „machen Sie Mittagspause“, sagt er dann. Dauert noch bis zum vierten Prozess.
Protest mit Bommelmütze
So, raus. Marmorfliesen, Rundbögen, Wachtmeisterei. Krähen schreien. Ein älterer Mann steht auf dem Gehweg, direkt neben dem Schild, auf dem „Gerichtsstraße“ steht. Trägt Bommelmütze und ein Plakat um den Hals. Darauf „WARNUNG!“ in roten Lettern geschrieben, drunter: „Der Direktor dieses Amtsgerichts Herr A. Martins ist ein brutaler Betrüger.“ Wieso er das denkt? „Weil der mich betrogen hat!“ Ob er deshalb öfter an dieser Ecke steht? „Das vierte Mal schon!“ Den kompletten Tag? „Vier, fünf Stunden“, sagt er, zu mehr kommt er nicht, weil neben ihm schon Autotüren eines Streifenwagens zuschlagen und zwei Polizisten auf ihn zulaufen. Der eine streng. Der andere eher lässig. „Wir wurden angerufen wegen dieses Schildes“, sagt der Lässige, und der Strenge zieht es dem Mann vom Kopf, reißt es ihm aus der Hand. „Könnte Richtung Beleidigung oder üble Nachrede gehen. Geben Sie mal Ihren Ausweis.“
Es ist wie bei den Fällen drüben im Saal: Für die Beteiligten sind sie alles andere als lustig. Resultiert doch fast jeder Fehler, der hier ein Aktenzeichen erhält, aus irgendeinem Mangel. Aus Geldmangel, aus Bildungschancen, die fehlen. Der Integration und Inklusion, über die man so oft sagt, dass sie gescheitert seien. Aus fehlendem Gefühl. Schleswig-Holstein gilt als strukturschwach, die Gesellschaft als verkorkst.
Wie ihre Abgründe aussehen, kann man nochmal am Nachmittag verfolgen, als die Prozesse sich schleppen und der Tag etwas Abgestandenes hat, Aktenzeichen 23 Ds 576 Js 30048/15 bis 23 Ds 579 Js 35941/15. Fallbeispiel eins: Eine Frau Mitte fünfzig hat 8.700 fällige Euro nicht bezahlt. Ihr Mann ist krank, „Pflegestufe drei“. Sie sagt: „Ich bin erwerbslos, ich bin arbeitssuchend.“ Sie wisse nicht, wie sie die Kosten für das Heim begleichen soll, wo ihr Mann wohnt. „Dann ist Ihr Vermögen bald aufgeschmolzen?“ – „Ja.“ – „Dann müssen Sie zur Schuldnerberatung.“ – „Ja, wo gibt’s die?“
Hundert Stunden gemeinnützige Arbeit
Zweites Beispiel: Vitali I., aus Kasachstan, 11 Mal vorbestraft, mehrere Freiheitsstrafen, Erschleichen von Leistungen in 6 Fällen, Erschleichen von Leistungen in 27 Fällen. Diesmal hat er mehrere Flaschen Wodka und Jack Daniel’s geklaut, die er verkaufen wollte, um sich Drogen kaufen zu können. Zwei Mal wurde er bei Edeka erwischt, ein Mal trug er ein Cuttermesser bei sich. 13 Uhr: „Diebstahl mit Waffen“. „Wann haben Sie das erste Mal Heroin genommen?“ – „2006.“ – „Hier oder in Kasachstan?“ – „Hier.“ – „Geraucht, gespritzt?“ – „Gespritzt.“ – „Haben Sie davor andere Betäubungsmittel genommen?“ – „Nein.“ – „Das höre ich so oft hier, dass bei Männern, die aus der ehemaligen UdSSR kommen, Heroin die Einstiegsdroge ist. Warum ist das so?“ – „Weiß nicht. Bei mir waren’s Probleme. Mit Job. Mit Freundin.“ – „Wie ist es mit Heroin, wie ohne? Das möchte ich verstehen.“ – Vitali lacht. „Nimmst du Heroin, dann brauchst du gar nichts.“ Seit Monaten gibt er jede Woche Urin ab. Jeden Tag holt er sich seine Ration Methadon in der Apotheke. „Wofür haben Sie das Messer gebraucht, das in Ihrer Hosentasche war?“ – „Na für Pakete-Aufmachen.“ – „Welche Pakte?“ – „Na Heroinpakete.“ Jetzt lacht der Richter. Vier Monate auf Bewährung. Bewährungshelfer, zwölf Monate Therapie. Hundert Stunden gemeinnützige Arbeit.
Drittes Beispiel: Ayhan C., aus der Türkei und spät dran. Er hastet in den Saal, seine Vorladung und das Portemonnaie in der Hand. Die Sache ist klar: Er hat ein Auto gefahren, ohne dass es versichert war. Ayhan verhaspelt sich, wippt vor und zurück, „Verstehen Sie mich nicht falsch“, sagt er, wieder und wieder, es ist die Totredetaktik, „Verstehen Sie mich nicht falsch.“ Er könne jetzt alle nochmal einladen, kontert der Richter. Den Polizisten, der Ayhan damals verhörte, Kollegen, die zu Zeugen wurden, „meinetwegen Ihre Frau“.
Oder man einige sich auf 150 Euro, die Ayhan an die Neumünsteraner Tafel spende. Ayhan ist angetan, sehr. „Die Tafel ist sogar bei mir unten im Haus!“ Die Angst weicht aus seinem Gesicht.
„Wie lange brauchen Sie, um das zahlen zu können?“, fragt der Richter.
„15 Tage“, sagt Ayhan.
„Machen wir zwei Monate. Evet?“ Ja?
„Teşekkür.“ Danke.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Historiker Traverso über den 7. Oktober
„Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure
Elon Musk greift Wikipedia an
Zu viel der Fakten
Aufregung um Star des FC Liverpool
Ene, mene, Ökumene