Staatsbibliothek Berlin: Ganz ohne Dichter und Denker
Der Lesesaal in der sanierten Stabi Unter den Linden soll an alte Größe anknüpfen. Doch wo einst Gelehrtenbüsten standen, herrscht heute Funktionalität.
Anderthalb Jahrzehnte – von 2005 bis 2019 – hat die Sanierung gedauert, wegen unvorhergesehenen Schwierigkeiten länger als gedacht. Nach einem Dreivierteljahrhundert sind nun auch letzte Kriegsschäden beseitigt, neue Sanitär‑ und Klimatechnik eingebaut und eine Buch-transportanlage installiert worden. Und obwohl das Haus Unter den Linden der Staatbibliothek nur für die Literatur bis etwa 1900 zuständig ist (die moderne Literatur befindet sich im Haus an der Potsdamer Straße), muss es heutzutage natürlich andere Arbeitsbedingungen vorhalten als 1914 – von den Toiletten bis zum Internetanschluss.
Ernst von Ihne hatte seinerzeit mit der Staatsbibliothek einen Kult des Wissen inszeniert. Das Gebäude ist also kein bloßer Zweckbau. Für Ihne ging es sowohl um die Verherrlichung von Bildung als auch um die Repräsentation kaiserlicher Größe. An Form und Schmuck kann man das Bildungsprogramm bis heute ablesen. Überall – von der Fassade bis zu den Büsten großer Denker auf den Regalen – hausen Geistesgrößen und mythologische Gestalten. Doch heute erschließt sich das einstige Universum der Bildung kaum noch.
Mehr Nutzfläche als das Humboldt-Forum
Das ehemalige kuppelbekrönte Prunkstück des Baus, der im Krieg zerstörte und zu DDR-Zeiten beseitigte Hauptlesesaal, ist durch einen modernen Neubau ersetzt worden. Schlüsselübergabe dieses Lesesaals war bereits Ende 2012. Die Pläne lieferte das Büro von HG Merz. Hans-Günter Merz oblag im Übrigen die künstlerische Leitung der gesamten Renovierung inklusive der sechs neu gestalteten Sonderlesesäle für Handschriften und Nachlässe, historische Drucke, Musikalien, Karten, Kinder-und Jugendliteratur, Zeitungen.
Bau Das Gebäude wurde 1903 bis 1914 durch Ernst von Ihne, Hofarchitekt von Kaiser Wilhelm II., im Neobarock errichtet.
Zerstörung Im Dezember 1943 erhielt das Herzstück des Baus, der allgemeine Lesesaal, einen schweren Bombentreffer. Die Ruine des Kuppelsaals wurde zu DDR-Zeiten beseitigt und durch Büchermagazine in anspruchsloser Silobauweise ersetzt.
Umbau Die Sanierung des Baus kostete insgesamt 470 Millionen Euro: Das sind 4.400 Euro pro Quadratmeter. (taz)
470 Millionen Euro hat die Restaurierung gekostet. Das ist vergleichsweise wenig, wenn man bedenkt, dass das 170 Meter lange und 107 breite Gebäude mehr Nutzfläche aufweist als das Humboldt Forum. Allerdings verbergen sich hinter den drei Kolossalgeschossen der Straßenfassaden auch 13 Etagen vom Keller bis unters Dach.
In den Lesesaal hinauf steigt man vom Eingang Unter den Linden über die Freitreppe des historischen Vestibüls auf das ehemalige Lesesaalniveau, von wo aus jetzt erneut eine holzverkleidete Treppe in den um eine Etage erhöhten neuen Lesesaal führt. Dieser allegorische Aufstieg zum Licht und Wissen endet allerdings im Unbestimmten. Das Lichtgeviert bleibt diffus, flächig und aussichtslos, es hebt nichts hervor, es taucht alles in eine schattenlose Egalität: Das Licht des Wissens hat keinen Inhalt mehr, es gibt sich neutral und beansprucht nur (vermeintliche) Funktionalität.
Die Epochen beißen sich
Genau das aber, die Implementierung des Neuen in eine alte Umgebung mit historischer Ästhetik, ist wohl die eigentliche Krux mit dieser Sanierung. Denn auch wenn HG Merz den Weg zum Wissen wie einen Aufstieg zum Licht reinszeniert, ist Merz’ neuer Lesesaal im Unterschied zum alten kein pseudosakrales Pantheon großer Geister, sondern eine mit Bücherregalen ausgekleidete Kiste mit diffus-gläsernem Deckel. Die Glaskonstruktion ist von innen kaum erkennbar, da sie hinter Stoffen ausgeblendet wird.
Diese Lichtregie (Konzept Kress & Adams, Köln) regiert das gesamte Gebäude, das nun als Dienstleistungsapparat fungieren soll. Was heute wie das Hygienekonzept eines Krankenhauses aussieht, war ja bei Ihne noch bunt verziert und schummerig beleuchtet gewesen. Der von HG Merz behauptete Respekt vor dem historischen Überkommenen wird durch die neue Ästhetik so in Wirklichkeit konterkariert: Der Altbau präsentiert sich wie die Leiche in einer Pathologie – fahl und tot.
Im Grunde besteht das Problem darin, dass sich hier zwei Epochen miteinander arrangieren sollen, die nicht zueinander passen. Ästhetisch beißt sich etwas. Das Neue will auf Erhabenheit nicht verzichten, hat aber dafür keine Inhalte mehr, das Alte mit seiner Verherrlichung festgefügter Ordnungen und unverbrüchlichen Traditionen wirkt hohl und überlebt. Wie schon beim Reichstag oder beim Humboldt Forum scheint dieser Zwiespalt zwischen Alt und Neu aber offenbar das Signum unserer Zeit – und vielleicht sogar das einer zerrissenen Gesellschaft.
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