Spitzenkandidat der Grünen Sven Giegold: Der Zuverlässige
Sven Giegold ist keine Rampensau, Gefühlsäußerungen fallen bei ihm sparsam aus. Warum kommt er bei WählerInnen trotzdem an?
Die ersten fünfzehn Meter vor der Bühne sind leer. Das Publikum, ungefähr 500 Menschen sind da, hält Distanz. Giegold achtet bei diesen Reden darauf, nicht zu akademisch zu klingen. Die Leute sollen merken, „dass eine Person dahinter steht und Energie spürbar wird“, sagt er später. Er habe eine Weile gebraucht, um das zu lernen.
Giegold, 49 Jahre alt, spricht eine halbe Stunde, ohne auf das Skript zu blicken. Er warnt vor Renationalisierung und Standortwettbewerb. Ein Buchhändler in Solingen zahle 30 Prozent Steuern, der Amazon-Konzern keine, sagt er nach fünf Minuten. Zum ersten Mal erklingt Applaus.
Jede Kritik an der EU federt Giegold mit einem Verweis auf Erfolge im Europäischen Parlament ab. Man dürfe, sagt er später im persönlichen Gespräch, nicht zu sehr mit Empörungs- und Skandalisierungsrhetorik arbeiten. Das komme zwar gut an, wie man an Sahra Wagenknecht sehen könne. „Aber so begeistert man nicht für Europa.“
Auf der Bühne hat Giegold nur eine Tonlage, und die klingt angelernt: laut. Doch inhaltlich schlägt er geschickt einen Bogen vom Sozialen zum Klimaschutz, verknüpft beides. Er wirbt für eine CO2-Steuer, die die BürgerInnen zurückerhielten. Der Effekt: Reiche, die viel reisen und große Wohnungen haben, zahlen drauf, Ärmere, die weniger verbrauchen, bekommen dadurch etwas heraus. Ökologie funktioniert nur über Umverteilung, nicht als Luxus. Das ist, neben Europa, seine Grundüberzeugung.
Klimawandel ist nichts Abstraktes mehr
Jackett, Jeans, Rucksack. Graue Haare, exakt geschnitten. So sieht er aus. Eine unauffällige Erscheinung, seit Jahren gleich. Er hebt auch mal den Zeigefinger, um die sozialen Vorteile der Reform der Entsenderichtlinie zu betonen. Giegold ist keine Rampensau, kein Volkstribun. Die scharfe Attacke, die überraschende Volte, die ironische Spitze, die gekonnte Ellipse, nichts davon.
Trotzdem ist das anfangs verhaltene Publikum von der Mixtur aus Kritik und Konstruktivem angetan. Gerade das Abwägende und Konkrete kommen an. Den heftigsten Beifall bekommt Giegold, als er für „Fridays for future“ und mehr Klimaschutz plädiert. In Solingen, sagt eine Ex-Gewerkschaftssekretärin und Linksparteiaktivistin, waren die Talsperren im letzten Sommer nur noch halbvoll. Klimawandel ist nichts Abstraktes mehr.
Giegold sitzt seit zehn Jahren im Europaparlament. Er ist einer der wenigen EU-Parlamentarier, mit dessen Namen Menschen hierzulande etwas verbinden. Antilobbyarbeit. Kontrolle der Finanzmärkte. Bürgerrechte.
Er hat sich mit Verve für den Untersuchungsschuss gegen den mächtigen EU-Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker eingesetzt – in Folge von „Luxleaks“, die die legale Steuervermeidung für Konzerne in Luxemburg enthüllten. Er hat das Gesetz angestoßen, das allen EU-Bürgern das Recht sichert, ein Bankkonto zu haben. „Das würde es ohne mich nicht geben“, sagt er.
Die Opposition hat im Europaparlament, zumindest in Sachfragen, mehr Spielräume als im Bundestag, wo eiserne Fraktionsdisziplin regiert. Giegold nutzt diese Räume, forciert im Brüsseler Apparat Initiativen – und verknüpft sie beharrlich mit außerparlamentarischen Kampagnen. Deshalb kennt man ihn.
Sein Handwerk hat er bei Attac vor mehr als fünfzehn Jahren gelernt. Und eigentlich schon früher in einer Wohngemeinschaft in Verden südlich von Bremen in den 90er-Jahren. Dort baute Giegold mit Freunden ein florierendes Ökozentrum auf. Die WG war eine gut organisierte Polit-Kommune. Giegold wollte unbedingt ein Kompostklo – um Wasser zu sparen.
Seine Wohngenossen waren davon nicht so begeistert, kapitulierten aber vor seiner Entschlossenheit zur ökologisch korrekten Lebensführung. Die Einigung: Es gab das Kompostklo, Giegold war für die Leerung des Stahltanks verantwortlich.
Rational, überlegt, zielstrebig, kontrolliert
„Herr Giegold, wir dachten, Sie kommen mit dem Fahrrad.“ So begrüßt ihn eine DGB-Funktionärin, als er in Solingen aus dem grünen Wahlkampf-Elektroauto steigt. Das ist sein Image: der Öko mit dem Rad. Der Vegetarier, der keinen Führerschein hat. Der Protestant. Jemand, den man jederzeit nach der Beitragsbemessungsgrenze für die Körperschaftssteuer in der EU fragen kann, mit dem man aber nicht unbedingt etwas trinken gehen würde.
Seinen Fahrer mahnt Giegold, das E-Auto nur mit Naturstrom zu laden. Als Zivildienstleistender trug er Birkenstock und Schafswollpulli. Popkulturell waren zu der Zeit Postpunk und HipHop angesagt. Aber die Popkultur und Giegold sind zwei Kosmen, die sich nicht berühren.
Mit 13 Jahren hat er, schockiert über das Waldsterben, in der Schule eine Umwelt-AG mitbegründet. Er engagierte sich bei der Jugendumweltbewegung, zählte Libellen und Vögel. Heute, sagt er mit Rückblick auf seine Biografie, sei davon fast nichts mehr da. Der Satz endet in einem unterdrückten Schluchzen. Er hat Tränen in den Augen und sagt knapp „Entschuldigung“.
Sven Giegold ist rational, überlegt, zielstrebig, kontrolliert. Gefühlsäußerungen fallen bei ihm, mimisch und gestisch, eher sparsam aus. Tränen wegen Libellen und Vögeln? Bei öffentlichen Reden meidet er das Thema. Dass so viele Tierarten verschwinden, geht ihm nah. „Viele machen Politik mit innerer Distanz“, sagt er. „Ich nicht.“
Nach der Rede auf dem Solinger Marktplatz umringen ihn zehn, zwölf Interessierte. Von Nord Stream 2 über die Altschulden der NRW-Kommunen, vom Nahverkehr im Bergischen Land bis zum Eurozonenbudget – Giegold weiß auf alles eine Antwort.
Der kleine Kreis liegt ihm mehr als die große Bühne, das Diskursive mehr als der Appell. Kerstin Haag, eine energische Mitfünfzigerin, gefällt, dass Giegold argumentiert und nicht nur über Umwelt geredet hat. „Ich werde wegen Ihrer Rede bei den Grünen eintreten“, sagt sie fröhlich. Ein Lächeln huscht über Giegolds Gesicht. Er lässt gleich einen Aufnahmeantrag herbeischaffen, ehe die Grüne in spe es sich anders überlegt.
Als eine ältere Dame sich empört, dass die Grünen Fracking-Gas befürworten, sagt er: „Ich will nicht ausschließen, dass auch Grüne mal Fehler machen können. Aber diesen machen wir nicht.“ Er lacht kurz und heftig, den Oberkörper leicht nach vorn gebeugt. Er wirkt etwas steif, gerade wenn er locker sein will.
Parteipolitik, ein liebloses Geschäft?
Das Strahlende und Smarte, die Lässigkeit, mit der sich Bürgerkinder unter ihresgleichen bewegen, hat er nicht. Auch wegen seiner Herkunft. Giegold ist ein sozialer Aufsteiger. Die Mutter war Fotolaborantin, der Vater Schlosser. Ökologe, Christ, Politiker – nichts davon war ihm in die Wiege gelegt. Bei einer Klassenfahrt hat er als 11-Jähriger mit dem Bestimmungsbuch Pflanzen angeschaut. Als Teenager ist er sonntags allein in den Gottesdienst gegangen. Er hat sich, mehr als andere, selbst erfunden.
Arbeiterkinder beherrschen, wenn man dem Soziologen Pierre Bourdieu folgt, die Codes des bürgerlichen Lebensstils nie mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie jene, die sie von klein auf gelernt haben. Giegold weiß, dass er nicht der Schwiegersohn-Typ à la Robert Habeck ist. „Robert“, sagt Giegold, „ist sprachgewandter und innerlich lockerer. Ich wirke unwirscher.“
So sieht er das. Zu beschreiben, was andere besser können, ist ungewöhnlich für einen Profipolitiker. Es birgt die Gefahr, schwach zu erscheinen. Oder die Macht nicht unbedingt zu wollen. Parteipolitik hält Giegold für „ein liebloses Geschäft“ – die Konkurrenz um die Jobs diktiert die Regeln. Er spielt mit, versucht sich aber dem Business so wenig wie möglich zu unterwerfen.
In den Medien galt er nach der Jahrtausendwende als Gesicht der Attac-Bewegung und als Rebell. Das war eine Täuschung. Unter den Globalisierungskritikern war er ein Realo. Dazu passt, dass in seinem Denken Marx und die Kritische Theorie keine Rolle spielen. Beeinflusst hat ihn John Rawls, der Theoretiker des Gerechtigkeit, und Michael Sandel, der US-Kommunitarist, der die moralischen Grenzen des Markt auslotet, fernab linker Kapitalismuskritik. Sandel ist kein intellektueller Abenteurer, kein radikaler Denker, eher solide, klug, nützlich. So wie Giegold.
Kein Kurswechsel
Hat er sich gar nicht verändert? Doch, auf unvermutetem Feld. Die Religion ist für ihn wichtiger geworden. Das ist kein Lippenbekenntnis. Er sitzt im Präsidium des Evangelischen Kirchentages 2019. Er betet mit seiner Familie. Er hält als Laie Predigten. Das Glücksgefühl, die Gotteserfahrung beim Verfassen der Predigten, sagt er, sei intensiver als früher. „Ich werde seit 15 Jahren immer frommer.“
Bis 2009 hat er als Attac-Aktivist von 1.000 Euro gelebt. Seit zehn Jahren verdient er ein Vielfaches. Geld verändert subtil und millimeterweise den Blick auf die Welt. Gerade soziale Aufsteiger sind anfällig dafür, mit Geld Zutritt zur Welt des Bürgerlichen zu erwerben.
Hat Geld ihn verändert? Er denkt kurz nach und sagt: „Mir ist Geld ziemlich egal. Ich bin noch immer sparsam.“ Er lebt in einer 90-Quadratmeter-Mietwohnung mit seiner Frau und den beiden Kindern. Etwas zu kaufen, wofür es keinen zwingenden Grund gibt, interessiert ihn nicht.
Das Parlament, sagt einer, der ihn lange kennt, „hat ihn nicht verbogen“. Im Politbetrieb in Brüssel arbeitet er noch immer an den gleichen Themen wie bei Attac – nur auf der anderen Seite.
Auch der Alltag des EU-Parlamentariers unterscheidet sich nicht gravierend von dem des Bewegungsaktivisten: organisieren, Reisen, Vorträge, Kompromisse suchen. Bei Attac musste er sich mit Feministinnen und Marxisten einigen, in Brüssel mit Liberalen und Christdemokraten. Und es gibt, abgesehen von einer kurzen Anarcho-Phase Anfang der 90er, in seiner politischer Vita keinen rabiaten Kurswechsel.
Insofern ist er eine Art Anti-68er. Die 68er waren in ihrer Jugend radikal und wurden im Laufe der Jahre milder, liberaler, angepasst. Giegold verkörpert ein anderes biografisches Muster: unspektakulärer. Verlässlicher.
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