Spielfilm von Alexandre Koberidze: Irritierender Flügelhauch

Der georgische Regisseur Alexandre Koberidze sucht in seinem Film nach Liebe und Kunst in Zeiten des Krieges – zwischen Fußball und Chatschapuri.

Eine Frau liegt

Eine der Lisas (Oliko Barbakadze) in „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ Foto: Grandfilm

Jetzt ist eine Zeit der Extreme, in der es immer gleich um alles geht. Ein Kinobesuch ist nicht nur bloßes Filmeschauen, sondern ein Protest gegen das passive Streamen. Oder zumindest ein Beitrag zur Rettung der Kinokultur. Wie anders will man rechtfertigen, dass man, statt angespannt der Nachrichtenlage zu folgen, auf eine Leinwand guckt, auf der minutenlang zu sehen ist, wie erwartungshungrige, frohe Kinder aus einem Schulhof herausstürmen?

Frei nach dem abgenutzten Brecht-Zitat von dem Gespräch über Bäume, das zu bestimmten Zeiten fast ein Verbrechen ist, weil es „ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“: Welche Relevanz hat jetzt gerade eine Kunst, die nicht unmittelbar politisch ist, sich nicht direkt mit dem Krieg befasst?

Aleksandre Koberidzes „Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“, der mit der beschriebenen langen Szene beginnt, liefert auf diese Frage eine zunächst irritierende, weil mäandernde, zögerliche, verschlüsselte Antwort. Aber es ist doch eine Antwort. Eine, die darum bemüht ist, in ihrer Formulierung eine Reflexion darüber mit einzuschließen, was Geschichten, was Filme mit ihren Zu­hö­re­r:in­nen und Zu­schaue­r:in­nen eigentlich so machen.

Zunächst einmal wäre da jener Akt, den man mit etwas Überhöhung Verzauberung nennt. Der empfängliche Zuschauer verspürt deren Flügelhauch vielleicht schon bei den erwähnten ersten dokumentarischen Bildern von den Kindern vor der Schule: Da gibt es eine Ruhe und Geduld im Blick der Kamera (Faraz Fesharaki), die der Betrachtung das Voyeuristische nimmt und zur Meditation auffordert. Man nimmt statt der einzelnen Gesichter vor allem die Stimmung wahr: die Unruhe, die Ungeduld, das Nichtstillstehenkönnen – und der Erfahrungshunger, der sich in all diesem Bewegungsdrang ausdrückt.

„Was sehen wir, wenn wir zum Himmel schauen?“ Regie, Buch: Alexandre Koberidze. Mit Giorgi Bochorishwili, Ani Karseladze u. a. Deutschland/Georgien 2021, 150 Min.

Dann wird der Blick kleinteiliger, ausschnitthafter und senkt sich zu Boden. Der Hof ist plötzlich leer. Zwei Paar Beine, das eine in einer roten Cordjeans, das andere in brauner Stoffhose, kreuzen sich. Ein Buch fällt zu Boden, wird aufgehoben, die Beine gehen weiter, kehren um, weil sie die falsche Richtung eingeschlagen haben, begegnen sich noch mal. Ein unbeholfener Dialog aus dem Off begleitet dieses „Meet-Cute“ zweier junger Menschen, die später als Lisa und Giorgi vorgestellt werden.

Lisa arbeitet in einer Apotheke; Giorgi spielt Fußball, zeigt der Film in tableauhaften Szenen. Lisa zieht sich den weißen Kittel über und stellt sich hinter die Theke. Giorgi sitzt mit seinen Fußballkollegen auf dem Rasen und lauscht den Ausführungen des Trainers. Wie zerstreut fängt die Kamera noch andere Szenen aus der Stadt ein, in der beide leben. Wir sind im georgischen Kutaissi, wenn man dem Blick der Kamera vertraut, einem beschaulichen Gebirgsstädtchen mit viel altem Gemäuer, aber auch modernem Verkehr, mit den üblichen Plastikstuhl-Cafés, Palmen-bestandenen Plätzen und einem reißenden Fluss, dem Rioni, in seiner Mitte.

Kein Wunder, sondern das Offensichtliche

Dann wird es Nacht, und die Kamera bezieht eine Position mit erhabenem Blick über eine Kreuzung. Oben links im Bild, kaum zu erkennen, begegnen sich erneut Lisa und Giorgi. Wieder hört man ihren etwas unbeholfenen Dialog. Sie verabreden sich, morgen Abend in einem bestimmten Café, und laufen auseinander, während die Stimme aus dem Off von „vier Freunden“ erzählt, die Lisa etwas sagen wollen.

Gemeint sind eine Regenrinne, ein Setzling, eine Ampel und der Wind. Sie alarmieren Lisa, dass sie in der Nacht ein Fluch ereilen würde. Dann bittet der Film seine Zu­schaue­r:in­nen darum, die Augen zu schließen. Am nächsten Morgen erwacht Lisa und erkennt sich nicht wieder. Was sie nicht weiß, weil, so die Stimme aus dem Off, der Wind es verpasst hat, ihr zu sagen: Auch Giorgi geht es so.

Für den skeptischen Zuschauer passiert hier kein Wunder, sondern das Offensichtliche: Lisa und Giorgi werden nun von anderen Schau­spie­le­r:in­nen gespielt. Wer sich dagegen willig verzaubern lässt, für den vollzieht sich mit diesem Kunstgriff ein kleines Mirakel. Der Blick auf die Welt verändert sich, Dinge kommen von ihrem scheinbar vorgeschriebenen Weg ab.

Nicht nur, dass Lisa und Giorgi sich nicht mehr als diejenigen erkennen können, die sich bei ihren zwei Zufallsbegegnungen ineinander verliebt haben, sie müssen auch ihre Leben den neuen Gegebenheiten anpassen: Lisa weiß nichts mehr über Medizin und verlässt ihren Apothekenjob, Giorgi kriegt als Fußballer nichts mehr hin und heuert bald als Straßenverkäufer an. Wie es der Zufall will, ganz in der Nähe eines Cafés, in dem Lisa einen Job als Bedienung findet.

Gleichzeitig bricht das Fußballweltmeisterschaftsfieber über der Stadt aus – die Bezüge zu Messi und der argentinischen Mannschaft sind real, die zu ihren Spielergebnissen nicht – und Kamera und Erzählung schweifen immer weiter ab. Es kommen Hunde, die Vardy heißen, ins Bild und erzählt wird davon, wo sie sich abends zum Fußballgucken verabreden. Chatschapuri, das traditionelle georgische Käsebrot wird gebacken. Und ja, natürlich wird irgendwo auch ein Film gedreht, beziehungsweise es wird für ihn gecastet. Womit sich schließlich eine Möglichkeit abzeichnet, dass Lisa und Giorgi doch noch zusammenfinden.

Für so manchen politisch Interessierten und von den aktuellen Ereignissen Geplagten mag das alles viel zu putzig klingen. Von wegen Liebespaar, Fluch, Beschaulichkeit. Und dann noch Fußballfieber! Es ist auch keine Übertreibung, wenn man feststellt, dass Koberidze die Geduld seines Publikums strapaziert.

Aber gerade in dieser gewollten Zerstreuung liegt etwas, in der Bereitschaft, sich treiben zu lassen in einem Fluss der Bilder, über deren Zielrichtung man sich in ständiger Ungewissheit bewegt, weshalb sie aber auch immer wieder Überraschungen bereithalten.Auf der einen Seite könnte man Koberidzes Film abtun als kokette Verschränkung von launiger Märchenerzählung und raffinierter Bildmontage, als weltfremdes Getue und L’art pour l’art.

Auf der anderen Seite hat eben dieses konsequente Ablenken Methode. „Es wäre nicht schlecht zu erläutern, in was für einer Zeit sich die Ereignisse, die wir hier gemeinsam betrachten, abgespielt haben: Die Zeit war gewaltsam, gnadenlos.“, räsoniert die Stimme aus dem Off nach einer Stunde, während die Kamera einem Fußball zusieht, den der Rioni-Fluss davonträgt. „Wie können Menschen ein alltägliches Leben führen, während um sie herum schwerste Verbrechen begangen werden?“, fragt sie weiter.

Koberidzes Antwort ist verschlüsselt. Sie liegt unter anderem im Umgang mit den Bildern, die Kameramann Faraz Fesharaki hier mit genialem Gespür für Taktilität und Atmosphäre einfängt. An den Details der Gemäuer, Straßen, Häuser und Menschen kann man sich schon kaum sattsehen. Und hinzu kommt die Suggestion des Erzählers, der aus jedem willkürlich eingefangen Passanten oder Kioskbesitzer einen Mitwirkenden in der Intrige um Lisa und Giorgi macht. Ja man sieht gleichsam dem Narrativ „in the making“ zu. Und dem, wonach wir uns alle innig sehnen: dem Frieden über der Stadt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.