Spielfilm über chinesische Geschichte: Keine Erlösung vom Vergangenen
In seinem Film „Bis dann, mein Sohn“ erzählt Wang Xiaoshuai von den Folgen der Ein-Kind-Politik. Und von Schmerz, Beharrlichkeit und Tod.
Wenn Liyun (Yong Mei) und ihr Mann Yaojun (Wang Jingchun) in ihre Heimatstadt im Norden Chinas zurückkehren, sind Jahrzehnte vergangen seit ihrem Aufbruch. Sie fahren mit dem Taxi durch Straßen, die sie nicht wiedererkennen. Die Arbeiterwohnsiedlungen: abgerissen; von dem, was war, sind nur in der Erinnerung Spuren geblieben.
Im Hintergrund huscht ein McDonald’s vorbei, auf der anderen Seite grüßt Mao in überlebensgroßer Statuenform. Die Statue, die auch ziemlich neu aussieht, verschwindet allerdings fast vor einer Werbetafel der riesigen Victory Mall. Liyun und Yaojun fahren zum Haus, zur Wohnung, in der sie einst lebten, und es ist geradezu gespenstisch zu sehen, dass hier alles genau so konserviert ist, wie es damals aussah.
In einer Laufzeit von drei Stunden bewegt sich „Bis dann, mein Sohn“ durch die Jahrzehnte. Er erzählt von interessanten und schrecklichen Zeiten in China, aber er tut es in der Konzentration auf das bittere Schicksal seiner Protagonisten Liyun und Yaojun und einer Familie, mit der sie erst Freundschaft, dann mehrfaches Unheil verbindet. Es ist ein Film über die Zeit, ihr Vergehen, im Privaten und wie nebenbei auch im Großen. Es ist ein Film über Schmerz, über Beharrungskraft, über die Generationen, nicht zuletzt auch ein Film über Eingriffe des Staats ins Leben der Bürger und deren Folgen. Er beginnt mit dem Tod.
Vom Nullpunkt aus in Rösselsprüngen vor und zurück
Zwei Jungs auf einer Anhöhe am Baggersee, einer rennt zu den Freunden. Der andere will nicht ins Wasser, dann ein Schnitt, man sieht den Jungen, Xingxing, er ist das einzige Kind von Liyun und Yaojun, im Kreis der Familie, beim Mittagessen, langsam schwenkt die Kamera an den Tisch, die letzte gemeinsame Mahlzeit. Denn dann folgt der Schnitt zurück an den See, man sieht von ferne aufgeregtes Gerenne, ein Unglück ist geschehen, der Vater trägt den leblosen Jungen im Arm, rennt und rennt, erreicht das Krankenhaus, aber man begreift rasch: In seinen Armen das Kind, Xingxing, war bereits tot.
Von diesem Nullpunkt aus geht „Bis dann, mein Sohn“ in Rösselsprüngen voran und wieder zurück. Die Rückblende zwischen den Bildern vom See wird nicht die Ausnahme bleiben, sondern sie setzt gleich zu Beginn die Erzählmethode des Films. Das ist verwirrend, ganz zu Beginn, es wird verwirrend bleiben. Zumal Regisseur Wang Xiaoshuai auf die Einblendung von Jahreszahlen verzichtet und man so genötigt wird, die Abstände bei den Sprüngen vor und zurück an Ausstattung, Maske und narrativer Logik zu erschließen.
Die Erzählung ist ein Puzzle aus Teilen, deren chronologischer Zusammenhang sich manchmal nur recht zeitverzögert erschließt. Man kann es als einen Versuch begreifen, eine Zeiterfahrung nachzuempfinden, die ein traumatisierendes Ereignis produziert: Nie kann sich die Gegenwart vom Vergangenen lösen.
Wie genau es zum Tod des Sohns am See kam, wird man ganz am Ende erfahren – das ist nicht die Auflösung eines Rätsels, aber doch die Schließung eines Kreises, zu der die Eltern und auch der Film erst am Ende fähig sein werden. Verwirrend ist auch ein seltsam verzweifelter Akt: Bald adoptieren Liyun und Yaojun einen anderen Jungen, sie haben ihn ausgewählt wegen seiner Ähnlichkeit mit dem verstorbenen Sohn, sie geben ihm dessen Namen, Xingxing. Der Versuch einer Ersetzung, der das Kind überfordert und mindestens so viel Unglück wie Glück produziert.
Aufschwung ohne Lebenslust
Es kommt hinzu: Als der erste Xingxing noch lebte, war Liyun ein zweites Mal schwanger. Ihre beste Freundin Hayian (Al Liya), in der Fabrik zuständig für diese Dinge, nötigte sie zur Umsetzung der Ein-Kind-Politik: Liyun willigte in die Abtreibung ein, Hayian wird noch auf dem Sterbebett von ihrem schlechten Gewissen geplagt.
„Bis dann, mein Sohn“. Regie: Wang Xiaoshuai. Mit Wang Jingchun, Yong Mei u. a.
China 2019, 185 Min.
Liyun und Yaojun versuchen der Erinnerung zu entfliehen. Sie ziehen weg aus der größeren Stadt, nach Süden, in die Provinz und verlieren über die Jahre den Kontakt zu Hayian und den anderen Freunden in ihrer Heimat. Einer von ihnen war lange Zeit im Knast, weil er sich westlich kleidete und westliche Musik gehört hat. Seine Lebenslust ist durch den Aufenthalt im Gefängnis gebrochen, auch wenn er und seine Frau wie erst recht die Familie Hayians vom ökonomischen Aufschwung des immer kapitalistischeren China sehr profitieren.
„Bis dann, mein Sohn“ ist, wie viele Filme Wang Xiaoshuais und anderer Regisseure der sogenannten Sechsten Generation (der berühmteste davon ist Jia Zhangke), der Versuch, sich einen Reim auf das in rasanter Veränderung begriffene China der Gegenwart zu machen. Es ist offenkundig, dass das ohne In-Rechnung-Stellen der Vergangenheit unmöglich ist.
Erzählt wird so von einem Land der Gebrochenen und Geknickten, von der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, der unbeglichenen Rechnungen, einem Land, das des Willens zur Versöhnung bedarf. In Jia Zhangkes Filmen steht all das schroff und brutal nebeneinander. Bei Wang Xiaoshuai ist es am Ende harmonischer gefügt. Die Traumatisierungen jedoch leugnet er nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!