Spielfilm „Eine Erklärung für alles“: Die Abiprüfung als Politikum
Der Regisseur Gábor Reisz zeigt im Film „Eine Erklärung für alles“ in sehr unmittelbaren Bildern die Zerrissenheit der ungarischen Gesellschaft.
Inhaltsverzeichnis
Die ersten Bilder von Gábor Reisz’„Eine Erklärung für alles“ erzählen von jugendlicher Ausgelassenheit. Es beginnt mit einer polaroidformatigen Aufblende in Zeitlupe: In dem sehr langsam größer werdenden Bildausschnitt sind Schülerinnen und Schüler zu sehen. Sie lachen, trinken zusammen, fahren U-Bahn und tragen Kerzen mit sich herum.
Dreh- und Angelpunkt des Films ist Ábel (Gáspár Adonyi-Walsh), ein schlaksiger ruhiger Junge mit Flatterhemd und feinem Schnurrbart. An einem Montag erkennt er, wie einer der vielen verspielten Zwischentitel in geschwungener Handschrift erklärt, dass er verliebt ist. Unglücklich, muss man konkretisieren, denn seine Freundin und Angebetete Janka (Lilla Kizlinger) ist ihrerseits unglücklich verliebt in ihren gemeinsamen Lehrer Jakab (András Rusznák).
Mit Ábels mündlicher Abitur-Abschlussprüfung in Geschichte kommt eine Eskalationsspirale ins Rollen. Als der Junge in der Prüfung kein Wort über die Lippen bekommt, fragt Jakab, ob er mehr Zeit brauche. Und dann: „Warum trägst du einen Ungarn-Anstecker?“ Die rot-weiß-grüne Kokarde ziert Ábels Jackett, das er – das ist eins der nicht wenigen unwesentlichen Details in diesem vielschichtigen Film – beinahe vor dem Prüfungsraum vergessen hätte.
Vater ist Fidesz-Anhänger
„Eine Erklärung für alles“. Regie: Gábor Reisz. Mit Gáspár Adonyi-Walsh, István Znamenák u. a. Ungarn/Slowakei 2023, 128 Min.
Eine Antwort gibt er auch darauf nicht und fällt durch die Prüfung. Was sein Vater György (István Znamenák), ein Architekt, der Viktor Orbáns Partei Fidesz wählt, mit den Worten kommentiert, dass selbst Ábels dummer Cousin das irgendwie geschafft habe.
Brisant ist die Frage des Lehrers, weil die Kokarde in Ungarn am 15. März, dem Jahrestag der bürgerlichen Revolution von 1848, getragen wird, ansonsten aber als Zeichen einer rechtsnationalistischen Haltung gilt. Als der Sohn niedergeschlagen vom Prüfungsverlauf erzählt, ist für György klar: Jakab ist politisch voreingenommen und hat seinen Sohn wegen der Kokarde durch die Prüfung rasseln lassen.
Durch die opportunistische Nachwuchsjournalistin Erika (Rebeka Hatházi), die für ein rechtsgerichtetes Blatt schreibt, findet das Gerücht eine mediale Echokammer.
Flirrendes Porträt der ungarischen Gesellschaft
Um diese Situation herum orchestriert Reisz nach einem gemeinsam mit Éva Schulze geschriebenen Drehbuch ein flirrendes Porträt der gegenwärtigen ungarischen Gesellschaft – eingefangen in filmischer Unmittelbarkeit mit Handkamera. Der Film spinnt in multiperspektivischen Schlaglichtern ein enger werdendes Netz um sein Personal und nimmt sich der Budapester Freiheitsbrücke, die immer wieder eine Rolle spielt, auch metaphorisch an.
Dem dumpfen populistischen Grundrauschen politischer Grabenkämpfe begegnet Reisz als Brückenbauer, dem der Humor nicht abhanden gekommen ist. Bei den Filmfestspielen von Venedig 2023 gewann er den Hauptpreis der Sektion Orizzonti.
Den rechtskonservativen György lernen wir als liebenden, fordernden Vater kennen. Beruflich schlägt er sich mit einem übermütigen Kunden herum, der die bekloppte Idee hat, sich die Villa des Außenministers für kleines Geld in abgespeckter Version nachbauen zu lassen. Oder mit einem Mitarbeiter, der sich in der Heimat unwohl fühlt und Richtung Dänemark auswandern will: „In der Straßenbahn sind lauter Verrückte!“
Patriotismus und linke Besserwisserei
Zugleich ätzt György mit patriotischen Standpauken herum oder pflegt seinen haarsträubenden Whataboutism. „Die lernen den Holocaust von A bis Z, aber was ist mit den Opfern des Kommunismus?“ Den linken Geschichtslehrer Jakab begleiten wir im komplizierten Alltag mit seiner Frau, der von Diskussionen um die beiden Kinder geprägt ist, oder bei einem Interview mit einem Augenzeugen des Aufstands von 1956, den er mit seiner Besserwisserei regelrecht vergrault.
Ohne zu Schablonen zu verkommen, kreisen diese beiden politischen Pole, die in einer Schlüsselszene aufeinander krachen werden, um Ábel. Newcomer Adonyi-Walsh spielt ihn mit zurückhaltendem Charme, und auch wenn man ihn lange nicht versteht – Hatte er wirklich einen Blackout? Warum der Anstecker? Hat er andere Pläne? –, so bleibt man doch bei ihm: wenn er in einige wunderbaren Einstellungen mit dem Rennrad durch die Stadt fährt oder sich Janka anzunähern versucht.
Autokratische Mechanismen in Bildung und Presse
Doch so angenehm ambivalent vieles bleibt: Verklärt wird in „Eine Erklärung für alles“ nichts. Seine Haltung ist dem Film fest eingeschrieben, wenn die Angst der Schule vor der Politik thematisiert oder die linientreue, ebenfalls nicht unsympathische Journalistin mit einer Beförderung belohnt wird. Reisz spielt im Kleinen die großen autokratischen Mechanismen in Bildung und Presse und die Konfliktlinien in zerrissenen Gesellschaften parabelhaft durch. Eine finanzielle Unterstützung von der ungarischen Filmförderung gab es im System Orbán nicht.
Dass auch das Ende der Jugend gehört, darf unbedingt als kinematografischer Optimismus gelesen werden. Ein Zaun, eine Gruppe, die sich Zugang zu einem Privatgelände mit Pool verschafft. Die Flucht vor den Besitzern endet mit einem Lachen im See.
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