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Spanischer ComicFresko einer Epoche

Die Geschichte einer Frau – Paco Rocas Graphic Novel „Rückkehr nach Eden“.

Bildausschnitt aus „Rückkehr nach Eden“ Comic: Paco Roca/Reprodukt

Fünf Leute an einem Tisch, zwei Jungs und zwei Mädchen, die fast schon erwachsen wirken, neben einer Frau mittleren Alters. Im Hintergrund ein sommerlicher Strand. Entspannte Blicke in Richtung des Fotografen. Das Foto ist schwarzweiß und stark vergilbt. Ein altes Familienfoto, das jedoch viele Geschichten birgt.

Der 1969 geborene spanische Comiczeichner Paco Roca („Kopf in den Wolken“, „Der Winter des Zeichners“) baut seine neue grafische Erzählung „Rückkehr nach Eden“ auf diesem unscheinbar wirkenden Bild auf, kehrt immer wieder zu ihm zurück.

Einen Rahmen bilden am Anfang und Ende des Buches schwarze Seiten, auf denen der Autor zunächst philosophische Gedanken über die Existenz an sich formuliert. Er spricht von lebendigen Teilchen, die durchs All schießen, zeichnet diese gebündelt als Lichtblitze, die zu menschlichen Existenzen führen. Winzig kleine Comicbilder kommen näher, werden immer größer, bis die Geschichte von Antonia beginnt, die Roca hier erzählt, um sie vor dem Vergessen zu retten.

Antonia ist Paco Rocas Mutter, die als Mädchen auch auf dem Foto zu sehen ist, das 1946 am Strand bei Valencia entstanden ist. Sie steht im Zentrum der Graphic Novel. Und obwohl sie nicht direkt zitiert wird, müssen fast alle Erinnerungen und Details von ihr stammen, damit ihr Sohn sie in dieser Form erzählen kann.

Der Comic

Paco Roca: „Rückkehr nach Eden“. Aus dem Spanischen von André Höchemer. Reprodukt Verlag, Berlin 2021, Hardcover, 176 Seiten, 24 €

In der Gegenwart, nachdem die betagte Antonia zu einem ihrer Kinder gezogen ist, sucht sie nach besagtem Foto. Geradezu verzweifelt fragt sie immer wieder danach. Ihre drei Söhne suchen nun überall danach, um sie aus ihrer Depression herauszuholen. Das Foto hatte sie immer bei sich, gehütet unter der Glasplatte ihres Nachttischs. Nach einiger Zeit findet es sich. Und nun fährt die Rückblende noch tiefer hinein in die Geschichte. Birgt das Foto ein Geheimnis? Warum ist es so wertvoll für Antonia?

Paco Roca steigt so in das Porträt seiner Familie ein, das sich zum Fresko einer ganzen Epoche entwickelt. Es ist das Spanien der frühen Franco-Ära, der Bürgerkrieg (1936–39) ist bereits vorbei. Die Faschisten haben gewonnen, doch die Männer in Antonias Familie haben aufseiten der Republikaner gekämpft, weshalb die ganze Sippe auf der Hut sein muss.

Das Spanien der kleinen Leute mit ihren Sorgen wird realistisch dargestellt und nicht glorifiziert

Die Bevölkerung Valencias leidet Not, auch weil die Korruption und die schlecht organisierte Rationierung der Lebensmittel das Elend noch steigern, der Schwarzmarkt floriert. Antonia ist eines von sechs Geschwistern. Während die Männer schlecht bezahlter Arbeit nachgehen, verdienen die Frauen mit Hausarbeiten für die Nachbarn etwas dazu.

Ein altes Familienfoto, das viele Geschichten birgt Comic: Paco Roca/Reprodukt

Roca porträtiert die Familienmitglieder in eigenen Kapiteln, arbeitet ihre Charakterzüge heraus, mal mit Sympathie, mal unerbittlich. Der Vater Vicente ist ein „Verlierer“, der in der Werkstatt seines kleinen Bruders arbeiten muss, der älteste Sohn Pipo ein Lebenskünstler mit schlechtem Toupet. Die Frauen sind hingegen meist tüchtig, wie Antonias Mutter Carmen, die den ganzen Tag im Haus arbeitet und ihrer jüngsten Tochter alles Nötige beibringt. Schulbildung hält sie – selbst Analphabetin – allerdings für verzichtbar.

Frömmigkeit und Träume

In ihrer Kindheit gibt sich Antonia Träumen hin, die den Hunger vergessen lassen. Meist basieren sie auf den Erzählungen der Mutter – wie die vom Ballonfahrer Don Milán, der für immer in den Wolken verschwand – und vermischen wahre Begebenheiten mit naivem Volksglauben. Ihre Frömmigkeit spiegelt sich in der blumigen Vorstellung vom biblischen Garten Eden wider. Doch dieser ist nach dem Sieg Francos noch weniger für „die Roten“ erreichbar als für viele andere.

In den bildstarken Visualisierungen der Fantasien Antonias und ihrer Mutter schafft Roca berührende Momente. Doch auch die innerfamiliären Konflikte stellt er dar. Großvater Vicente gebiert sich als autoritärer Patriarch, verstößt eine seiner Töchter, als diese unehelich schwanger wird. Seine Frau schlägt er regelmäßig.

Paco Roca lässt die Erinnerungen seiner Mutter in seinen sorgfältig getuschten Zeichnungen lebendig werden, taucht sie in Grau-, Sepia- und Brauntöne, sodass sie mit den in den Comic integrierten alten Fotografien eine Einheit bilden.

Alltägliche Sorgen realistisch dargestellt

Mit pointierten Strichen gelingt es ihm, seine Charaktere deutlich und durchaus tiefgründig zu konturieren. Das Spanien der kleinen Leute mit ihren alltäglichen Sorgen wird realistisch dargestellt und nicht glorifiziert. Es ist nicht sehr verschieden von der Nachkriegszeit in anderen europäischen Ländern. Nur hielt das Elend dort durch die Diktatur wesentlich länger an.

Die – heute von manchen Spa­niern wieder nostalgisch verklärte – Franco-Ära demaskiert der Zeichner in einigen bissigen Sequenzen. So etwa, wenn der Staat die Armen als Faulpelze und potenzielle Kriminelle offen diskriminiert. Oder wenn die katholische Kirche in Person eines älteren Paters gegen die Gegner des „Caudillo“ (Führers) in einer hasserfüllten Predigt hetzt.

Ein Moment surrealer Komik entsteht, als die stets hungrige Antonia sich daran erinnert, wie der Pater ein ganzes Huhn zu Mittag verspeiste. Sie kann sich den Geistlichen fortan während der Predigten nur noch mit Brathähnchenkopf vorstellen.

Paco Roca knüpft in „Rückkehr nach Eden“ an seine 2015 entstandene Graphic Novel „La Casa“ an. In dieser verarbeitete er den Tod seines Vaters, noch verschlüsselt autobiografisch, mit geänderten Namen. Im Vergleich mit diesem feinen Kammerspiel ist „Rückkehr nach Eden“ vielmehr ein eindringliches Gesellschafts- und Generatio­nenporträt, das in Spanien Schullektüre sein sollte.

Hommage an die Mutter

Zugleich ist „Rückkehr nach Eden“ eine Hommage an die eigene Mutter, deren teils verklärte, teils bittere Erinnerungen an eine vergangene Epoche hier zum Glück vor dem Vergessen gerettet werden. André Höchemer hat Rocas einfühlsame Erzähltexte mit großer Sensibilität ins Deutsche übertragen.

Paco Roca hat übrigens auch im aktuellen Batman-Sonderband „The World“ (Panini Verlag) mitgewirkt. Künstler aus 14 Ländern von den USA bis Japan zeichnen da kürzere Batman-Comics, die in ihren jeweiligen Ländern angesiedelt sind. Paco Rocas Version ist die lustigste.

Sein Batman gönnt sich nach kräfte­raubenden Kämpfen mit dem Joker einen Incognito-Urlaub in Spanien. Flughafen, Hotelzimmer, Swimmingpool, Urlaubsflirts. Bruce Wayne als ganz normaler Touri. Gepflegte Langeweile konterkariert durch die regelmäßigen Audio-Nachrichten des Butlers Alfred, mal „einfach loszulassen“. Doch wo ist das Kostüm Batmans geblieben?

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