Spätsommerliche Melancholie: Hassen, was man liebt

Kein Lied beschreibt den Sommer, der sich seinem Ende neigt, besser. „Estate“ von Bruno Martino erzählt von salzigen Küssen und der Vergänglichkeit.

Bruno Martino singend auf einem schwarz-weiß Foto.

Bruno Martino 1961 am Mikrofon Foto: imago

Seitdem ich vor einigen Tagen nach Rom zurückgekehrt bin, geistert mir permanent ein Lied durch den Kopf. Ich höre es bei fast jedem Schritt, den ich durch die noch immer drückend heißen und leicht nach brennendem Holz riechenden Straßen laufe, denke daran, wenn ich den in perfektem Milchkaffee-Braunton eingefärbten Frauen im Café dabei zusehe, wie sie die Ferien mit ein, zwei rot leuchtenden Spritz-Campari und guten Strandgeschichten verlängern.

Es heißt „Estate“ von Bruno Martino und beginnt wie folgt: „Sommer / Du bist heiß, wie die Küsse, die ich verloren habe / Du bist voller Liebe, die vergangen ist.“ In Italien ist das Lied auch als „Odio l’estate“, bekannt, „Ich hasse den Sommer“, denn so lautet der Refrain: „Ich hasse den Sommer. Ich hasse den Sommer.“

Ich glaube, kein Lied beschreibt das Gefühl des sich zu Ende neigenden Sommers besser: Es geht um Schönheit und Vergänglichkeit, um Dankbarkeit und Wut. Um die Sonne, die duftenden Blumen, die Wärme, die salzigen Küsse, die etlichen Sonnenuntergänge, die wir tausendmal gesehen haben und doch immer wieder bestaunen. Um Farben, Licht und natürlich, worum sonst, um die Liebe. Jener Liebe, die der Sommer mit seiner Fähigkeit, alle Bedenken auszuräumen und alle Illusionen zu befeuern, erfindet, nur um sie dann später, nach dem Höhepunkt des Ferragosto, wieder zu töten.

Grenzenloser Optimismus und Rückkehr zur Realität

Sein Song handelt vom grenzenlosen Optimismus, den diese leuchtende Jahreszeit, die sich in Italien anfühlt wie der Beginn eines ganz neuen Lebens, mit sich bringt. Und um die Rückkehr zur Realität, die weniger glitzernd ist, als es uns die auf der Meeresoberfläche wild tanzenden Lichtpunkte für ein paar Wochen glauben ließen.

Martino veröffentlichte das Lied 1960. Im selben Jahr, im selben Sommer, in dem Elvis seine Verflossene im Radio mit „Are you lone­some tonight?“ fragte, ob sie einsam sei und sich nach ihm sehne. In gewisser Weise geht es in beiden Songs um ähnliche Themen, nur dass der des Italieners im Gegensatz zu dem des Amerikaners kein Zurück erlaubt. Der Sommer ist vorbei und die Liebe ist es auch. E basta! So ist es, daran gibt es nichts zu rütteln. Und wahrscheinlich soll es das auch nicht.

Die Rosenblätter werden zu Boden fallen, der Schnee wird alles bedecken, die Zeit wird vergehen, die Erinnerung verblassen und das schmerzende Herz wieder Frieden finden. So die Hoffnung. Der Sänger hasst den Sommer, weil er ihm Glück gegeben hat und ihn nun „vor Schmerz sterben lässt“, nur hasst er ihn auf eine Art, auf die man nur Dinge hasst, die man liebt. Auch dafür, dass sie zu Ende gehen und somit intakt bleiben.

Sommerhit aus dem Jahr 1960

Angeblich, so habe ich das gelesen, war dieses Lied in Italien der Ohrwurm des Jahres 1960. Der Hit dieses Sommers, in dem Rom die 17. Olympischen Spiele beherbergte. Jeder hatte Bruno Martinos Zeilen im Kopf, jeder summte sie. Allein, zu zweit, beim Schmusen am Strand oder Knutschen in der Bar. Man hörte „Estate“, wenn man mit Freunden auf einem Felsen in der Basilikata saß oder mit seiner Geliebten irgendwo auf Sizilien einen Fisch im Feuer grillte.

Auf Anhieb schien mir dieser Gedanke skurril. Schließlich ist diese Canzone so gar nicht im Stile der, pardon, leicht hirnlosen und vor sich hin ballernden Sommerhits gehalten, die wir so kennen. Das Lied ist nachdenklich, klarsichtig, es spricht von Verlust statt von Ewigkeit. Es ist, wie der Musik gewordene Ausdruck der neapolitanischen „Appocundria“, diese Melancholie, die nur jene ereilt, die (wie die Neapolitaner) mit sehr viel Grandezza und Bellezza konfrontiert worden sind und etwas missen, das nicht durchschnittlich, sondern außergewöhnlich war.

Wahrscheinlich macht das auch den andauernden Erfolg des Liedes aus, erklärt, warum man es bis heute summt und selbst João Gilberto es nachsang. Weil es eine Ode an unsere Fähigkeit ist, uns in die Liebe wie in den Sommer zu stürzen: Mit vollem Körper- und Geisteseinsatz, so als wüssten wir nicht, dass das Ende möglich und sogar wahrscheinlich ist, mit der Lust, sich zumindest für kurze Zeit der wundervollen Illusion hinzugeben, dass es von nun an immer warm und sonnig sein wird.

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