Starspektakel in Rom: Der Sturm der schlechten Seelen

In Rom verwandeln Vogelschwärme den Himmel alljährlich in eine große Freilichtbühne. Die Stare haben die Römer schon seit Jahrhunderten fasziniert.

Stare am Himmel

Der Himmel über Rom Foto: Mimmo Frassineti/imago

Vor einigen Wochen stand ich mit zwei amerikanischen Freunden und ihrem vierjährigen Sohn auf dem Dach eines der Gebäude des Vatikans und schaute über den Petersplatz rüber zum Fluss. Es war früher Abend, der kühlblaue Himmel war mit rosa und fliederfarbenen Schlieren durchzogen und animierte uns zum Seufzen. „Wie schön!“, sagten wir, „unglaublich!“

Um uns vom Fortschritt unseres Italienisch zu überzeugen schoben wir ein, zwei „Che bello!“ und ein „Incredibile!“ hinterher, als der kleine „Nando“ (kurz für Ferdinand) unsere Rührseligkeiten mit einem Aufschrei unterbrach: „A ghost!“, kreischte er, „ein Geist!“. Er stand gebannt und mit weit aufgerissenen Augen an die Steinbalustrade gedrückt und zeigte mit seinem winzigen Finger in die Ferne. Tatsächlich. Dort, etwa auf der Höhe der Piazza Venezia, tanzte ein dunkler Schleier wellenartig durch die Luft in Richtung Quirinale. Ein Geist, ganz eindeutig. Auch bekannt als: der erste Starenschwarm des Jahres.

Über eine Million Vögel reisen jährlich Ende November in Rom an und verwandeln den Himmel in eine gigantische Ballett-Freilichtbühne. Auf einmal schweben nachmittags, kurz bevor es dunkel wird, gigantische Schleier über dem Tiber. Besonders zwischen der Isola Tiberina und dem Castel Sant’Angelo rauschen zwitschernde Wolken durch die Luft, winden sich, ziehen sich zusammen und wieder auseinander, erscheinen hellgrau und weit, dann eng und dunkel, pechschwarz.

Sie drehen sich um ihre eigene Achse, zeichnen Wellen und Punkte und allerlei Formen ins Blau, bis sie irgendwann relativ unerwartet in eine Baumkrone hinabsinken und verschwinden, als habe sie ein grünes Loch verschluckt. Man nennt diesen Vorweihnachtstanz der Stare die „Murmuration“. Der Anblick ist beeindruckend. Nicht nur für Kinder, nicht nur für Fremde. Auch Italiener, auch Römer, haben sich von diesen Geistern inspirieren lassen.

Google zerstört die Romantik

Dabei suggeriert eine Google-Suche erst einmal etwas anderes. Mit einem Klick ist die Poe­sie dahin. Die Headlines sagen kein Wort über die Schönheit dieses kollektiven Pulsierens, dieser unglaublichen Gemeinschaftsarbeit. Stattdessen sprechen sie von der „Vogelplage“, dem „störenden Star“, und berichten, die Leute müssten am Lungotevere mit Regenschirmen herumlaufen, weil diese Gäste aus dem Norden Kot vom Himmel runterregnen lassen würden. Das stimmt natürlich. Unter den Bäumen entlangzulaufen ist zu dieser Jahreszeit keine gute Idee.

Und doch lässt sich über die Gäste auch ganz anderes sagen. Dante Alighieri zum Beispiel machte aus dem Tanz der Vögel ein Sinnbild für die Gefahren und Verlockungen, denen die menschliche Seele ausgesetzt ist. Hin und her geschlagen, einem unbekannten Kommando folgend, wie der Schwarm. In der „Göttlichen Komödie“ heißt es: „Dahingetragen von ihren Flügeln in breitem, dichten Zug, so treibt der Sturm die schlechten Seelen hierhin, dorthin, nach unten, nach oben.“

In jüngerer Zeit und auf einem ganz anderen Terrain haben die Vögel den römischen Physiker und Nobelpreisträger Giorgio Parisi dazu animiert, an ihrem Beispiel die Funktionsweise komplexer Systeme zu erforschen, also zu versuchen nachvollziehen, wie die Interaktion zwischen Tausenden Vögeln so reibungslos funktioniert.

Wer gibt das Signal zur Drehung? Wie kann es sein, dass sie nie miteinander kollidieren? Seine Ergebnisse sind fast so schön und lehrreich wie das Spektakel selbst: Die Vögel müssen nicht das große Ganze im Blick haben, um eine gemeinsame Bewegung zu erreichen, es genügt, wenn jeder Vogel auf seine sechs, sieben direkten Nachbarn achtet und mit ihnen eine gewisse Harmonie anstrebt.

„Die Frage der Interaktion ist wichtig“, schreibt Parisi und erklärt, er und sein Forscherteam hätten sich darauf konzentriert zu verstehen, wie es den einzelnen Tieren durch Kommunikation gelingt, ihre Bewegungen so aufeinander abzustimmen, dass eine „einzigartige kollektive und vielfältige Einheit entsteht“. Wenn man sein Buch „Der Flug der Stare“ zuklappt und über dem Tiber in die Luft schaut, kommt man kaum drumrum, in der Schwarm-Bewegung eine Metapher für die Gesellschaft zu sehen. Oder eben doch einfach, so wie Nando: einen sehr wild kreisenden „Ghost!“.

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