Spätabtreibungen in Deutschland: Letzter Ausweg Holland
Jede dritte bis vierte Frau, die eine Schwangerschaft im zweiten Trimester abbricht, fährt in die Niederlande.
In normalen Zeiten kommen jeden Tag auch deutsche Schwangere hierher. Im Jahr sind es nach Angaben der Klinik 250 bis 300 Frauen. Sie befinden sich nach Auskunft des Vrelinghuis fast alle jenseits der ersten drei Schwangerschaftsmonate. Denn nach diesem Zeitraum ist in Deutschland eine Abtreibung nur in Ausnahmefällen möglich. Die Entscheidung darüber treffen nicht die Frauen, sondern Ärzt*innen. In den Niederlanden hingegen sind Abtreibungen bis zur 24. Schwangerschaftswoche grundsätzlich erlaubt.
Die Grenze Die Grenze zu den Niederlanden ist offen, es gibt aber bisweilen Kontrollen. Die Leiterin der Klinik in Roermond sagte der taz, Frauen würden nach Gründen für ihre Einreise gefragt, es kämen derzeit weniger Deutsche.
Die Behandlung Das Vrelinghuis in Utrecht gibt an, auf Wunsch Patientinnen ein Dokument auszustellen, das den Grund für ihre Einreise nennt. Die Klinik in Heemstede hatte bis Donnerstag einen Hinweis auf der Homepage, nach dem Frauen aus Deutschland derzeit nicht aufgenommen werden. (eib)
Das führt, wie Recherchen der taz zeigen, offenbar dazu, dass jede dritte bis vierte Frau, die nach den ersten zwölf Wochen nach Empfängnis bei einem Arzt oder einer Ärztin eine Schwangerschaft abbricht, für den Eingriff aus Deutschland in die Niederlande fährt. Und das nicht, weil sie sich zu spät um eine Abtreibung gekümmert hat. Sondern weil das Kind, das sie erwartet, wahrscheinlich gesund ist. Wäre eine Behinderung des Ungeborenen diagnostiziert worden, das ist ein weiteres Rechercheergebnis, bekäme sie in Deutschland einen Abbruch.
Es gibt keine Studie, die das belegt, keine Auskunft der Bundesregierung, die das bestätigen kann. Weil noch niemand danach gefragt hat. Eine vom Europäischen Forschungsrat finanzierte Studie zu Abtreibungsreisen innerhalb der EU steht noch am Anfang. Aber es gibt Erfahrungswerte von Ärzt*innen in Deutschland und den Niederlanden, die in Kombination mit den verfügbaren Statistiken eine deutliche Sprache sprechen.
„Abtreibungstourismus“ besteht noch
Zunächst also die Zahlen: In Deutschland hatten 2018 laut Statistischem Bundesamt 2.163 Frauen zwischen der 12. und 22. Woche einen Abbruch. Nach Angaben des niederländischen Gesundheitsministeriums brachen im selben Jahr 1.237 Frauen mit Wohnsitz in Deutschland eine Schwangerschaft in den Niederlanden ab. In welchen Schwangerschaftswochen dies geschieht, wird nicht erfasst. Auch existiert keine klinikspezifische Auflistung. Aber die Klinik Beahuis & Bloemenhove in Heemstede bei Haarlem, die nach eigenen Angaben mit 735 Frauen im Jahr 2019 noch mehr deutsche Patientinnen behandelte als das Vrelinghuis, bestätigt: Die allermeisten befänden sich zwischen der 12. und 22. Woche. Das sagt auch eine Klinik in Amsterdam.
Helga Seyler, Frauenärztin
Es gibt 14 auf Abtreibung spezialisierte Kliniken in Holland, in denen 95 Prozent aller Abbrüche stattfinden, nur in Heemstede und Utrecht sind sie bis zur 22. Woche möglich. Die meisten Deutschen gingen in diese beiden Kliniken, sagt eine Sprecherin des niederländischen Gesundheitsministeriums. Konkrete Zahlen nennt sie nicht.
Theoretisch könnten die deutschen Frauen auch in ein anderes Land als die Niederlande reisen. Aber selbst die beiden europäischen Länder, England und Wales, in denen der Abbruch so lange erlaubt ist, weisen nach einer Statistik der britischen Regierung 2018 nur 22 Frauen aus.
Gesetz, das nicht eingehalten wird
Es gibt einen einfachen Grund für diesen Abtreibungstourismus: Diejenigen, die auch nur ein paar Tage über der Zwölfwochenfrist liegen, brauchen hierzulande eine medizinische Indikation. Das bedeutet: Ein Arzt oder eine Ärztin muss bescheinigen, dass ein Austragen der Schwangerschaft „eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren“ darstellt. So steht es im Paragrafen 218a des Strafgesetzbuchs.
Diese Formulierung hat der Gesetzgeber 1995 gewählt, weil nicht der Eindruck entstehen sollte, dass Föten aufgrund von Fehlbildungen abgetrieben werden. Doch genau das geschieht. Die taz hat mit einigen niedergelassenen Gynäkolog*innen gesprochen. Alle sagen übereinstimmend, dass es kein Problem sei, in Deutschland eine medizinische Indikation zu bekommen, wenn das Kind behindert sein wird. Manchmal, sagen Ärzt*innen, müssten sie sich quer durch die Republik telefonieren, um eine Klinik zu finden, die bereit ist, den Abbruch vorzunehmen. 17 Tage dauert es durchschnittlich zwischen Diagnosestellung und Abbruch. Das ergab eine Untersuchung des Instituts für Rechtsmedizin der Universitätskliniken Gießen und Marburg aus dem Jahr 2017.
Diese Gießener Studie ist nahezu die einzige Datenbasis zu dem Thema. 160 Abtreibungen nach der 12. Woche am Universitätsklinikum Gießen hatten die Forscher*innen ausgewertet. Ausnahmslos alle diese Abbrüche in Gießen geschahen aufgrund von Fehlbildungen des Fötus. Kein einziger aufgrund der psychischen Verfasstheit der Frau – was aber laut Gesetz das entscheidende Kriterium sein sollte.
Das deckt sich mit dem Bild, das Expert*innen zeichnen. Nur in Einzelfällen, sagen sie, fänden sie einen Psychiater oder eine Psychiaterin, die eine Notlage der Frau bescheinigt. Und in Einzelfällen werde diese Indikation von einer Klinik akzeptiert. Doch die Mehrheit habe nur zwei Möglichkeiten: Die Schwangerschaft austragen oder, wenn sie das Geld und die Kraft haben, nach Holland fahren.
Dort gibt es übrigens sehr viel weniger Abtreibungen nach der 24. Woche, wenn der Fötus außerhalb der Gebärmutter lebensfähig ist. In Holland waren es 2018 nur 11 solcher Spätabtreibungen – in Deutschland 655. Deutschland hat etwa fünfmal so viele Einwohner*innen wie Holland.
Für Helga Seyler ist dies eine „unerträgliche Doppelmoral“. „Die psychische Notlage einer Frau, die kein Kind mit Downsyndrom bekommen will, wird akzeptiert, während die Not einer Frau in einer extrem schwierigen psychosozialen Lebenslage nicht anerkannt wird, weil das Kind ja gesund sei.“ Seyler ist Frauenärztin und arbeitet seit 1991 beim Familienplanungszentrum in Hamburg, das unter anderem vom Verein Pro Familia getragen wird. Bis 2005 hat sie selbst Abtreibungen durchgeführt, jetzt nimmt sie nur noch die Vor- und Nachuntersuchungen vor. Während niedergelassene Gynäkolog*innen davon sprechen, jährlich eine oder zwei Frauen in der Praxis zu haben, für die Holland der letzte Ausweg ist, sieht Seyler eine im Quartal. Das liegt daran, dass Kolleg*innen viele Frauen zu ihr schicken, wenn sie eine Schwangerschaft feststellen, die für einen Abbruch nach Beratungsregelung zu weit fortgeschritten ist. „Die sitzen dann hier und sind völlig verzweifelt“, erzählt Seyler am Telefon.
Noch nie hat Helga Seyler in bald 30 Jahren erlebt, dass eine Frau „einfach so“ erst so spät gekommen ist, um eine Schwangerschaft feststellen zu lassen und dann abtreiben will. „Es sind immer Frauen in prekären Lebensverhältnissen“, sagt sie. Darunter viele Gewaltopfer. Einige von diesen hätten sich schon für das Kind entschieden, bis ihnen klar wurde, dass sie damit dem gewalttätigen Kindsvater kaum entkommen können. „Andere haben die Schwangerschaft verdrängt, weil sie nicht in der Lage sind, für sich zu sorgen.“ Diese Frauen seien in der einen oder anderen Weise psychisch krank, sagt Seyler. Psychiater*innen könnten ihnen also bescheinigen, dass ein Austragen der Schwangerschaft ihre Erkrankung verschlimmern würde. Aber selbst im liberalen Hamburg sei es schwer, jemand dafür zu finden, sagt Seyler. „Damit will niemand etwas zu tun haben.“
Häufig sind es Migrant*innen, von denen die Ärzt*innen erzählen. In den Jahren 2015 und 2016, als viele Geflüchtete Deutschland erreichten, häuften sich die Fälle von auf der Flucht vergewaltigten Frauen. Bis zur 12. Woche nach Empfängnis ist in Deutschland die kriminologische Indikation nach Vergewaltigung möglich. Das heißt, dass die Frau nicht zur Beratung gehen und keine Bedenkfrist einhalten muss. Doch bis eine Geflüchtete in Deutschland angekommen ist, sind meistens Monate vergangen.
Keine Chance mit psychischen Problemen
Die Hamburger Ärztin Silke Koppermann erinnert sich an eine Frau aus Eritrea, die in der 25. Woche gewesen sei, als sie zu ihr kam. Sie sei auf der Flucht mehrfach vergewaltigt worden. Es gab eine medizinische Indikation, aber das Ethik-Komitee der Klinik lehnte die Abtreibung ab. „Ich habe der Klinik gesagt, dass sie das der Frau bitte selbst erklären soll“, sagt Koppermann. Daraufhin hätte das Komitee dann doch zugestimmt.
In einem ähnlichen Fall in Wuppertal musste eine Frau die Schwangerschaft austragen. Dabei befand sie sich bereits zur Behandlung in der Psychiatrie, erzählt die Ärztin Eva Waldschütz. „Da war noch nicht mal jemand bereit, die Indikation zu stellen.“ Und eine Ärztin aus Baden-Württemberg, die anonym bleiben möchte, berichtet von einer Patientin, der bereits drei Kinder weggenommen worden waren, weil sie in so desolaten Verhältnissen lebt, dass das Jugendamt ihr nicht zutraute, ihre Kinder gut versorgen zu können. „Ich habe mit ihr über Holland gesprochen, aber sie darf wegen ihres Aufenthaltsstatus den Landkreis nicht verlassen.“
Dabei sind die beiden niederländischen Kliniken, die jedes Jahr gemeinsam rund 1.000 Frauen aus Deutschland behandeln, auf Patientinnen aus der ganzen Welt eingestellt. Auf der Homepage des Vrelinghuis stehen Informationen auf Englisch, Deutsch, Französisch, Italienisch und Polnisch. Die Kosten müssen am Telefon erfragt werden. 865 Euro kostet der Eingriff ab der 13. Woche, davor 680 Euro. Für die niederländischen Frauen übernimmt die Krankenversicherung die Kosten. Die Ärzt*innen würden noch weitere Sprachen sprechen, darunter auch Russisch und Arabisch, sagt Lev Querido, der Direktor des Vrelinghuis. „Jeder von uns spricht fünf oder sechs Sprachen.“
Auf ausländische Klienten eingestellt
Querido hat ausnahmsweise in ein Interview eingewilligt, um die deutschen Kolleg*innen wie die Gießener Abtreibungsärztin Kristina Hänel zu unterstützen, wie er sagt. An einem Nachmittag empfangen er und sein Chefarzt Frans Bocken den taz-Korrespondenten in einem kleinen Besprechungszimmer im Erdgeschoss der Klinik. Sie sind beide spezialisierte Fachärzte für Schwangerschaftsabbrüche und machen ihren Job schon sehr lange. Bocken, Mitte 50, seit 23 Jahren, Querido „ein paar Jahre mehr“, wie er sagt. Er erinnert sich noch an Zeiten, in denen die Frauen in Massen aus Deutschland kamen, weil sie, wenn sie überhaupt einen Arzt fanden, häufig unter erniedrigenden Umständen behandelt wurden.
Querido spricht mit einer bedächtigen Abgeklärtheit, wie jemand, der große Kämpfe erlebt hat und sich sicher ist, auf der richtigen Seite zu stehen. „Wenn Abtreibung verboten wird, findet sie trotzdem statt“, sagt er. „Frauen, die eine Schwangerschaft nicht austragen wollen, finden einen Weg.“ Früher unter lebensgefährlichen Bedingungen mit Seifenlauge und Stricknadel – heute mit einer Reise in die Niederlande.
Das spiegelt sich in der vom Gesundheitsministerium veröffentlichten Statistik. 2018 wurden in den Niederlanden 31.002 Schwangerschaften abgebrochen, knapp 11 Prozent der Patientinnen kamen aus dem Ausland, und davon zu zwei Dritteln aus Deutschland und Frankreich. Die vielen ausländischen Patient*innen erklären wahrscheinlich auch, warum in den Niederlanden knapp 18 Prozent aller Abbrüche nach der 13. Woche stattfinden.
Chefarzt Frans Bocken erklärt, was die Frauen in seiner Klinik erwartet. „Wir beginnen mit einem Aufnahmegespräch durch einen Arzt oder eine Ärztin, um herauszubekommen, ob sie ihre Entscheidung aus Überzeugung getroffen hat. Wir müssen ausschließen, dass sie von jemandem dazu gezwungen wurde.“ Bleiben Zweifel an einer freien, gut durchdachten Entscheidung, behandeln die Ärzt*innen nicht. Das passiere täglich, sagt Bocken.
Wenn die Frau nicht von sich aus erzähle, warum sie das Kind nicht will, fragen sie im Vrelinghuis nicht nach. „Das können alle möglichen Gründe sein“, sagt Klinikdirektor Querido, „sie ist zu dem Schluss gekommen, dass es nicht anders geht. Es steht uns nicht zu, ihre Gründe zu bewerten.“
Anders als in Deutschland ist es in Holland üblich, nach dem dritten Schwangerschaftsmonat die Gebärmutter auszuschaben. In Deutschland machen dies nur vereinzelt Ärzt*innen, ansonsten wird die Geburt mit Wehenmitteln eingeleitet. Das sei die schonendere Methode, heißt es hierzulande. In den Niederlanden gilt der operative Abbruch als verträglicher. Tatsächlich ist es wohl vor allem für die Psyche der Ärzt*innen schonender, wenn die Frau den Fötus gebiert und sie ihn nicht herausholen müssen.
Manchmal, das erzählen auch die deutschen Gynäkolog*innen und Pro-Familia-Berater*innen, ist die Angst vor einer eingeleiteten Totgeburt ein Grund, warum Frauen nach Holland gehen. Es gibt noch andere Ursachen für eine Abtreibung in Holland. Manche Frauen wählen diesen Weg auch in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten, vielleicht, weil es weniger umständlich ist, vielleicht, weil sie wissen, dort in guten Händen zu sein. Das vermutet die Leiterin der Abtreibungsklinik in Roermond. Der Ort liegt direkt hinter der Grenze, bis nach Mönchengladbach sind es 40 Kilometer. Rund 30 Prozent der Deutschen kämen im ersten Trimester, schreibt sie. Ihre Kollegin in Arnhem nahe Kleve sagt, bei ihr sei es ein Fünftel der deutschen Frauen.
Zahl der Abtreibungen steigt
Die Grenzübertritte für eine Abtreibung nehmen zu. Seit neun Jahren steigt die Anzahl langsam, aber stetig an. Das mag auch daran liegen, dass in Deutschland immer weniger Ärzt*innen bereit sind, Abtreibungen durchzuführen, wie die taz vor drei Jahren aufdeckte.
Es ist daher wahrscheinlich, dass die Anzahl der deutschen Patient*innen in den niederländischen Abtreibungskliniken auch in den nächsten Jahren ansteigen wird und Querido und Bocken in Utrecht noch mehr zu tun haben werden. Ob sie nicht das Gefühl haben, die Drecksarbeit für ihre deutschen Kolleg*innen machen zu müssen? „Nein“, sagen sie. Zum einen sei es für sie keine Drecksarbeit, sie machten es gerne, aus der Überzeugung heraus, Menschen helfen zu können. Zum anderen würden sie es zwar begrüßen, wenn ihre europäischen Nachbarn ihren Einwohnerinnen die Behandlung erleichtern würden. Aber solange sie es nicht tun, machten sie eben das, was gemacht werden müsse.
Zum Abschied erinnert Frans Bocken an einen niederländischen Slogan aus den 1970er Jahren: „baas in eigen buik“, das heißt so viel wie „Chef im eigenen Bauch“. Dafür stehe er. „Ich finde es schön, dies zu verteidigen.“ Wenn es sein muss, auch über Landesgrenzen hinweg.
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