Soziologin über den „Marsch des Lebens“: „Die Politik fürchtet die Kirche“
Am Samstag marschieren Abtreibungsgegner in Berlin. Gegen die konservativen Christen werde nicht offen genug argumentiert, sagt Gisela Notz, Ex-Chefin von Pro Familia.
taz: Frau Notz, die „Märsche für das Leben“ der Abtreibungsgegner werden immer größer. 4.500 waren es letztes Jahr, diesen Samstag werden in Berlin noch mehr erwartet. Woher kommt der Zulauf?
Gisela Notz: Vielleicht ist das Bedürfnis nach einer heilen Welt, wie die Kirchen sie malen, gewachsen. Die familienpolitische Debatte ist jedenfalls nach rechts gerückt. Deshalb ist auch die AfD erstarkt, in der die sogenannten „Lebensschützer“ eine große Rolle spielen. Beatrix von Storch, die nun im Europaparlament sitzt, war bei diesen Märschen ganz vorn dabei. Sie ist für ein Totalverbot der Abtreibung und setzt sich für ein traditionelles Familienbild ein.
Aber eigentlich ist doch die Familienpolitik auf einem liberaleren Kurs: die Kinderbetreuung wird ausgebaut, Mütter sind für Top-Positionen erwünscht ...
Aber auf der anderen Seite gibt es das Betreuungsgeld. Und die heterosexuelle Kernfamilie steht immer noch im Mittelpunkt, siehe Ehegattensplitting. Oder die Proteste der Koservativen gegen die Sexualerziehung in der Schule, obwohl die dazu beiträgt, Abtreibungen zu verhindern. Und die Politik fürchtet die Macht der Kirche. Gegen die konservativen Christen wird nicht offen argumentiert.
Haben sie auch so viel Einfluss, weil die Rechtslage in Deutschland unklar ist? Die Menschenrechte beginnen ja eigentlich erst ab der Geburt. Das deutsche Verfassungsgericht dagegen hat ja gesagt ...
(liest aus den Unterlagen vor:) ... „das sich im Mutterleib entwickelnde Leben steht als selbstständiges Rechtsgut unter dem Schutz der Verfassung und hat auch Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau.“ Das ist ein Problem. Immer noch ist der Schwangerschaftsabbruch in Deutschland eine Straftat. Natürlich trägt das dazu bei, dass die Schuldgefühle der Frauen viel stärker sind als sie es etwa in den 1970er Jahren waren, als die ersatzlose Streichung von Paragraf 218 (Strafgesetzbuch, d. Red.) gefordert wurde.
Der Papst findet‘s gut, Bischöfe rufen auf, CDU-Granden schicken Grußworte: „Der Marsch für das Leben“ in Berlin, organisiert vom „Bundesverband Lebensrecht“, wird am Samstag zum 10. Mal stattfinden. Es wird mit mehreren tausend Teilnehmenden gerechnet, die ein Totalverbot der Abtreibung und das Ende der Präimplantationsdiagnostik fordern.
Abtreibung ist in Deutschland verboten, aber in den ersten 12 Wochen straffrei, wenn die Frau sich qualifiziert hat beraten lassen und danach drei Tage bis zum Abbruch wartet.
Gegen die von fundamentalistischen Christen getragenen Forderungen protestiert das „Bündnis für sexuelle Selbstbestimmung“ um 13.00 Uhr vor dem Brandenburger Tor.
Das Bündnis „What the fuck“, zu dem Antifa, autonome Feministinnen, Grüne Jugend und weitere linke Gruppen gehören, startet schon um 11.30 Uhr am U-Bahnhof Kochstraße.
Aber spielt das Strafrecht im Alltag eine so große Rolle?
Ich denke doch. Pro Familia hat noch unter meinem Vorsitz junge schwangere Frauen befragt. Viele sagten: Ich würde nicht abtreiben, ich bin doch keine Mörderin. Andere, die abgetrieben haben, waren der Meinung, sie hätten ihr Kind umgebracht. Dann geht es ihnen natürlich schlecht. Und die AbtreibungsgegnerInnen sagen: Schaut mal, so schlecht geht es jemandem, der abgetrieben hat. Sie haben eine Krankheit erfunden: Das Post-Abortion-Syndrome.
Aber manche Frauen stecken Abtreibungen auch nicht mal eben so weg.
Ja, deshalb ist es gut, wenn man qualifiziert beraten und begleitet wird. Die Beratung muss aber immer freiwillig sein. Es ist nicht hilfreich, Schuldgefühle noch zu verstärken. Das tun aber konservative LehrerInnen oder PfarrerInnen, die Abtreibung mit Mord vergleichen. Diese Haltungen werden dadurch bestärkt, dass der Abbruch im Strafgesetzbuch verhandelt wird. Das muss sich ändern.
Würden Sie alle Abbrüche in jedem Stadium erlauben?
Das müsste man verhandeln. Die DDR hatte den Paragrafen 218 nicht mehr im Strafrecht. Es gab ein eigenes Schwangerschaftsunterbrechungs-Gesetz, in dem dann die Fristenlösung festgehalten wurde. In Kanada gibt es überhaupt kein Abtreibungsgesetz, da gibt es auch nicht mehr Abbrüche als hier. Auch sie haben eine qualifizierte Beratung.
ist Sozialwissenschaftlerin und leitete von 2004 bis 2010 den Bundesverband von Pro Familia. Die 72-Jährige organisiert das „Bündnis für sexuelle Selbstsbestimmung“ mit, das gegen AbtreibungsgegnerInnen protestiert.
Wenn dann aber eine Frau käme und im sechsten Monat ist und sagt, ich will das Kind doch nicht bekommen, gibt es dann nicht ein Problem? Es ist ja immerhin schon außerhalb des Mutterleibs lebensfähig.
Das ist eine konstruierte Situation. In Kanada werden nur 2 Prozent der Abtreibungen nach der 16. Woche durchgeführt. Keine Frau macht sich die Entscheidung leicht.
In den letzten Jahren wurden Ärzte und Beratungen immer wieder angezeigt, sie machten strafbare Werbung für Abtreibung. Wie wirkt das?
Ich wurde auch angezeigt. Sie kamen nicht durch. Zugleich wurden wir gemeinsam mit ÄrztInnen auf verschiedenen Homepages diffamiert. Von mir gab es ein Bild, dazu wurde formuliert, ich „betreibe vier Tötungszentren“. Das sind die medizinischen Zentren von Pro Familia, die streng nach den gesetzlichen Regelungen arbeiten. Das ist natürlich sehr belastend. Sie müssen sich vorstellen, dass junge Mädchen ihre Fragen heute natürlich im Internet googeln. Sie landen dann bei Verunglimpfungen von Beratungsstellen und Seiten wie „babycaust.de“, die von einem Völkermord sprechen.
Fühlten Sie sich eingeschüchtert?
Es soll auf jeden Fall einschüchtern. Es frisst Ressourcen und nervt. Das ist eine Zermürbungstaktik. Ebenso wie die sogenannten Gehsteigberatungen. Da werden gestresste Frauen nochmal unter Druck gesetzt. Ihnen werden vor der Klinik Plastikembryos in die Hand gedrückt, die angeblich so aussehen, wie ihre Embryos, dabei sind die echten Embryos in diesem Stadium viel weniger entwickelt. Das ist Psychoterror.
Kann man sich dagegen wehren?
Ja, Gerichte haben bereits Zonen ausgewiesen, in denen diese Nötigungen nicht stattfinden dürfen. Es lohnt sich, sich juristisch zu wehren.
Warum geht es immer wieder um den Bauch der Frau und nicht um geborene Kinder, die Hilfe brauchen?
Es ist eine christliche Tradition, die sich seit dem Mittelalter gehalten hat. Das Leben gehört Gott. Gott hat einen totalitären Anspruch. Der Mensch darf daran nichts ändern. Diese Meinung hat sich im Laufe der Aufklärung in sehr vielen Bereichen geändert. Aber dem Selbstbestimmungsrecht der Frauen steht die Kirche immer noch negativ gegenüber. Auch 2013 dankte der Papst den Teilnehmern des „Marsches für das Leben“ für ihren tatkräftigen Einsatz.
In den USA gibt es mittlerweile eine Mehrheit, die gegen Abtreibungen ist – anders als in den Siebzigern. Könnte das in Deutschland auch passieren?
Der Einfluss christlicher Gruppen in den USA ist sehr viel größer als in Deutschland. Wir haben aber diese zwiespältige Gesetzeslage. Eigentlich müsste es nun weiter nach vorn gehen. Aber dafür gibt es gerade wenig Bewegung. Die andere Seite dagegen, die alles zurückdrehen möchte, ist sehr agil. Ich hoffe, Frauen lassen sich zumindest die Rechte, die sie haben, nicht wegnehmen.
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