Soziologin über Transgender: „Geschlecht ist vieldimensional“
Über Transgeschlechtlichkeit wird stark gestritten. Das hat auch mit einem Unbehagen über die Moderne zu tun, sagt die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky.
taz: Ob der kurzzeitig abgesagte Vortrag von Marie-Luise Vollbrecht über Zweigeschlechtlichkeit an der Humboldt-Universität Berlin oder die Ankündigung zum neuen Selbstbestimmungsgesetz: Ständig gibt es einen neuen Anstoß für die sogenannte Transdebatte, die in Deutschland seit Monaten vehement geführt wird. Aber worüber wird hier eigentlich debattiert, Frau Villa Braslavsky?
Paula-Irene Villa Braslavsky: So eindeutig kann ich das nicht sagen, denn wie immer bei gesellschaftlichen Debatten verhandeln wir viel mehr als nur ein eingegrenztes Sachthema. Doch beim Thema Transgender scheint die Aufregung auch deswegen so bizarr, weil es eigentlich nur einige Menschen unmittelbar betrifft. Man könnte also fragen: Warum seid ihr hier emotional so krass unterwegs, wenn es euch doch gar nicht wirklich betrifft? Aber: Offenbar fühlen sich sehr viele Menschen hier betroffen.
Woher kommt das Betroffenheitsgefühl?
In modernen Gesellschaften gibt es das Versprechen auf Individualisierung, dass wir uns also frei und mündig selbst gestalten können. Die soziale Position und die eigene Existenz resultieren nicht aus dem Beruf oder Stand des Vaters, sondern aus dem Schulzeugnis, dem Talent oder der Lebenserfahrung. Dieses Versprechen der Moderne ist zugleich auch Zumutung. Denn es führt dazu, dass wir uns ständig neu erfinden und optimieren müssen. Und nun gibt es diesen Optimierungsdruck auch noch beim Thema Geschlecht.
Die Menschen sind also von der Vorstellung, dass Geschlecht nichts Konstantes ist, überfordert?
Nein, aber ich habe doch den Eindruck, dass die Selbstgestaltung des auch körperlichen Geschlechts vielen Menschen Unbehagen bereitet. Das lässt sich populistisch nutzen, als Ressentiment nämlich gegenüber dem, was als elitär, abgehoben, akademisch, also künstlich und „degeneriert“ wahrgenommen wird. Nach dem Motto: Menschen können nicht nur viele Sprachen sprechen, weit verreisen und haben gute Karrieren, nun sind sie auch noch spielerisch beim Thema Geschlecht. Dass sich cis-geschlechtliche Personen so vehement gegen Transrechte wehren müssen, verweist vielleicht doch darauf, dass ein Unbehagen der eigenen Geschlechtlichkeit gegenüber besteht. Das Infragestellen einer unverfügbaren Eigentlichkeit von Geschlecht wird offenbar von einigen als Bedrohung erlebt.
Jahrgang 1968, ist Soziologin mit Schwerpunkt Gender Studies an der Universität München.
Ist das alles?
Der wesentlichere Teil ist, dass moderne Gesellschaften mit dem Versprechen auf Individualisierung immer ein paar Dinge ausgenommen haben. Alle sollen frei, autonom und mündig sein – außer, sie sind von Natur aus anders. Und „von Natur aus anders“ sind alle außer der hetero cis-geschlechtliche, weiße, „gesunde“, bürgerliche, europäische Mann. Alle anderen gelten historisch betrachtet als unter anderem wild, pervers, behindert, weiblich, unterentwickelt, „rassisch“ – also dubios, nicht ganz zivilisiert. Weite Teile der Menschheit sind historisch also vom Versprechen auf Gleichheit ausgeschlossen. Ungleichheit entlang von Rassenideologien, Sexismus, Heteronormativität oder Behindertenfeindlichkeit beruhen auf diesen Annahmen, sie sind strukturell Teil moderner Gesellschaften. Seit dem 20. Jahrhundert weisen feministische Kämpfe genau das zurück: „Biologie oder Natur ist nicht Schicksal.“ Und deswegen ist die Frage, was in den Bereich der Natur und was in den Bereich der gesellschaftlichen und gestaltbaren Formen gehört, so umkämpft. Um diese Frage kämpfen soziale Bewegungen schon immer. Und das verhandeln wir jetzt auch beim Transgenderthema.
Unbehagen kann man niemandem absprechen. Aber was, wenn aus dem Unbehagen Hass, Hetze und Gewalt entstehen?
Jedes Unbehagen ist erst einmal berechtigt. Sobald daraus jedoch Hass wird oder Existenzweisen infrage gestellt werden, wenn Entmenschlichung oder Kriminalisierung geschieht – dann ist das höchst problematisch. Ebenso, wenn sich das ideologisch wendet und in diskriminierende Gesetze niederschlägt, wie gerade in den USA. Dort, etwa in Texas oder Alabama, können zum Teil Eltern von trans Jugendlichen bestraft werden, wenn sie sich darum bemühen, ihnen bestmögliche medizinische Versorgung zu gewährleisten. Dadurch geraten sie nämlich in den Verdacht, Transgeschlechtlichkeit zu unterstützen, was illegal ist. Wie aber kann man als Gesellschaft auf diesen Hass reagieren? Ich glaube, es bleibt uns nichts anderes übrig, als weiter zu diskutieren. Das darf ruhig kontrovers sein, aber Existenzweisen dürfen nicht infrage gestellt werden.
Wie könnte so ein Streit denn aussehen?
Das Interessante ist ja, dass wir uns in der Wissenschaft eigentlich einig sind, dass Geschlechtlichkeit etwas ist, an dem sich sehr viele Disziplinen beteiligen sollten, weil es so vieldimensional ist: Biologie, Politik, Geschichte, Ökonomie, Kultur, Psychologie, Medizin und so weiter. Da könnten wir doch – Friede, Freude, Eierkuchen – in multiperspektivische Gespräche treten und sagen: Ja, wir haben alle unseren Anteil dazu beizutragen, da müssen wir gar nichts gegeneinander ausspielen. Aber es gibt dann eben Positionen, wie die von Vollbrecht, die reduktionistisch autoritär auftreten, die sich als die ganze und einzige Wahrheit setzen. Auch wer mit „nur Kultur“ und „nur sozial“ argumentiert, tut das autoritär. Immer wenn gesagt wird, ich habe die ganze Wahrheit und die anderen haben keine, ist das empirisch falsch und normativ autoritär.
Die Diskussion wird jedoch nicht nur zwischen Biolog*innen und Soziolog*innen geführt. Es ist offenbar auch keine Frage von rechts oder links: Lässt sich denn irgendwie festhalten, wer hier eigentlich mit wem streitet?
Es ist kein Alleinstellungsmerkmal, doch gerade beim Thema Geschlecht ist auffällig, dass die Debatte sich nicht durch Links-rechts-Schemata oder über Milieus abbilden lässt. Es ist eher eine Auseinandersetzung zwischen autoritärem Denken und pluralistischem, ich würde es postessenzialistischem Denken nennen. Auf der einen Seite die autoritäre Position, die sagt: Das ist so, weil es von Natur aus so ist, fertig. Und wer diese „Ist so“-Logik infrage stellt, gilt als gefährlich und irrational. Auf der anderen Seite steht die Position: Unsere Gesellschaft ist aufgeklärt, tolerant, pluralistisch und wir haben die Möglichkeit sowie ethische Verpflichtung, uns selbst zu gestalten. Und diese Position gibt es bei Konservativen und Linken, bei Bildungsbürgerlichen, bei Arbeiter*innen, in der Stadt und auf dem Land. Viele Menschen gehen total undramatisch mit „Gender Trouble“ um. Die haben kein Problem, dass der Sohn Glitzer-Fingernägel trägt oder die Tochter der Nachbarin trans ist.
Auch in feministischen Debatten findet man transfeindliche Argumente. Häufig wird der Schutz von cis Frauen gegen die Rechte von trans Frauen ausgespielt. Also beispielsweise die Angst vor einem Menschen mit Penis in der Umkleidekabine. Empirisch belegen lässt sich diese „Sorge“ nicht. Wie konnte sich das Narrativ dann trotzdem so gut verbreiten?
Ihnen ist es gelungen, die Angst vor Penisträgern in Röcken so sehr zu pushen, dass es so scheint, als sei das das Hauptthema. Dabei wissen wir auch aus empirischen Studien, dass mit Abstand die größte Gefahr für Frauen aus dem Nahraum kommt. Täter sind also in der Regel (Ex-)Partner oder andere Verwandte, Bekannte. Durch die ständig formulierte Sorge vor dem „unbekannten Mann“ – früher im Gebüsch, heute in der Umkleide – wird diese Gefahr jedoch verschleiert. Immer wieder wird auch das Angstbild hervorgeholt, dass eine trans Frau mit Penis im Frauengefängnis Gewalt ausübt. Aber niemand redet darüber, wie viele Männer sexualisierte Gewalt von Männern in Gefängnissen erleben. All das ist heute schwer thematisierbar, weil es diese Schreckfigur beziehungsweise dieses Skandalisierungspotenzial gibt. Das heißt nicht, dass man Sorgen von cis Frauen vor sexualisierter Gewalt ignorieren sollte, im Gegenteil – aber sie gehen in diesen Fällen total an der empirischen Wirklichkeit vorbei.
In etablierten Medien nimmt sie trotz allem großen Raum ein. Wie nehmen Sie die Debatte überhaupt dort wahr?
Sehr einseitig und wenig nuanciert, leider. In linken Medien, wie dem Freitag, der Jungle World oder der taz bis hin zu konservativen Medien wie der FAZ und allen voran der Welt dominiert die Aussage: Anisogamie ist die Eigentlichkeit von Geschlecht, und wer das nicht anerkennt, ist ein Spinner und genauso bescheuert wie religiöse Fanatiker. Ich vermisse eine fundierte Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen, breiten, teilweise auch widersprüchlichen und vielfältigen Bild von Geschlecht, als biosoziale Komplexität. Auch die Gender Studies erkennen an, dass es Natur, Materialität und Biologie gibt. Aber weder determiniert das allein Geschlecht, noch liegt die Natur außerhalb unserer selbst als totale Unverfügbarkeit.
Können Sie das erklären?
Es gibt Natur als Teil unserer selbst und wir gestalten sie mit. Hormone sind dafür ein Beispiel: Je nach Alter, Ernährung, Schlafrhythmus, Sportaktivität, Körpergewicht und so weiter verändert sich unser Hormonhaushalt. Biosozialität ist unsere Natur. All das kommt kaum in den Medien vor. Zwischen Sozial- und Naturfundamentalismus findet kaum etwas statt. Das wird uns nicht gerecht.
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