Soziologe zu deutschem Ost-West-Konflikt: „Mein Optimismus ist gedämpft“
Soziologe Steffen Mau glaubt, die Ost-West-Verwerfung in Deutschland werde eine Konfliktachse bleiben. Er plädiert für Bürgerräte.
wochentaz: Viele Debattenbeiträge zu Ostdeutschland argumentieren inzwischen mit modischen Begriffen. So wenn etwa behauptet wird, „Ostdeutschland“ sei eine reine Diskurs-Konstruktion, mit der sich Westdeutschland lediglich seiner eigenen Identität vergewissere. Ist der Ostdeutschland-Diskurs im Fahrwasser des Postkolonialismus angekommen?
Steffen Mau: Postkoloniale Theorie fungiert heute oft als Steinbruch, aus dem sich inzwischen auch viele beim Thema Ostdeutschland bedienen, beispielsweise durch den Rekurs auf das „Othering“ und den dominanten Westen. Andere Diskussionsbeiträge basieren aber vor allem auf Küchenpsychologie: wenn etwa behauptet wird, „die Ostdeutschen“ seien so sehr diktatur- oder transformationsgeschädigt, dass ihnen das Ankommen in der Demokratie einfach nicht gelingen könne.
Im identitätspolitischen Diskurs geht es zentral um die Frage: Wer gehört dazu? Ist es möglich, ostdeutsch zu werden?
Bei identitätspolitischen Fragen gerät man auch als Wissenschaftler sofort mitten in die politische Auseinandersetzung um die Definition der jeweiligen Identität, ihre Umdeutung oder um Gruppengrenzen. Es ist daher schwierig, eine Definition von „ostdeutsch“ zu geben, die über einen „geteilten Erfahrungszusammenhang“ hinausgeht. Dirk Oschmanns Thesen kritisiere ich regelmäßig. In seinem Buch gibt es aber eine schöne Formulierung: Ostdeutsch ist nur, wer sich vom Spiegel-Titel „So isser, der Ossi“ irgendwie angesprochen fühlt.
In jedem Fall ist „Ostdeutschland“ inzwischen viel stärker Thema im Diskurs.
Steffen Mau
geboren 1968, ist Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität Berlin. 2021 erhielt er den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft.
In den 1990er Jahren galt „ostdeutsch“ noch als eine verschwindende Identität, die allenfalls noch mit antiquierter „Ostalgie“ und einer romantisierenden Erinnerung an die DDR einherging. In akademischen, linken Milieus gibt es inzwischen sogar Versuche, das Merkmal „ostdeutsch“ aufgrund von existierenden Benachteiligungen in die Register intersektionaler Identitätspolitik aufzunehmen. So wie es etwa das Netzwerk „Dritte Generation Ost“ tut.
Waren Sie etwa im Laufe ihrer akademischen Karriere mal mehr, mal weniger ostdeutsch?
Durch meine Publikationen wurde ich als Ostdeutscher sichtbar. Das ist natürlich auch Teil des Spiels mit Etikettierungen im Universitätskontext und auf dem Buchmarkt. Meine eigene Positionalität wurde bislang allerdings nur in Bezug auf Ostdeutschland thematisiert – bei meinen anderen Arbeitsschwerpunkten nicht.
Liegt das auch am Westdeutschen als unsichtbare Norm im Ost-West-Verhältnis?
In der Tat gibt es keine kollektive Identifizierung als „westdeutsch“. Es ist ein typisches Muster in sozialen Verhältnissen, dass die größere Gruppe für die kleinere zur eigenen Identitätsgewinnung viel elementarer ist als umgekehrt. Westdeutschland bleibt für viele Ostdeutsche eine zentrale Referenz-Gesellschaft. Schon bei der Wiedervereinigung hatten viele Ostdeutsche eine stereotype, statische Vorstellung „vom Westen“ als Gesellschaft. Fragen von Einwanderung, Wertewandel oder die Einbindung ins internationale Geschehen waren eher nachrangig. Zu diesen Imaginationen und Projektionen kam es sicherlich auch, weil Ostdeutschland eine kulturell und sozial sehr viel homogenere Gesellschaft war: mit wenig Zuwanderung und einer stark ausgeprägten Mentalität der „kleinen Leute“.
Sehen Sie das Potenzial, dass das Ost-West-Verhältnis in Zukunft stärker an Bedeutung gewinnt?
Die Ost-West-Verwerfung wird eine wichtige gesellschaftliche Konfliktachse bleiben. Auch nach über drei Jahrzehnten im Großen und Ganzen erfolgreicher Wiedervereinigung und trotz positiver ökonomischer Entwicklungen im Osten. Verbreitet ist inzwischen der Versuch, die Vorstellungen von Ostdeutschland anders zu besetzen und eine Art von kultureller Hegemonie zu beanspruchen. Rechte Polarisierungsunternehmer preisen den Osten daher als Gegenwelt zum verweichlichten, dekadenten, von Migration überschwemmten „Westen“.
Eine klassische Externalisierung unerwünschter Anteile in der eigenen Gesellschaft …
… die aber reale Auswirkungen hat. Es ist wahrscheinlich, dass sich das Parteiensystem in Zukunft stärker entlang der Ost-West-Achse spaltet. Die Grünen und die FDP könnten sich mit aktuell sehr niedrigen Umfragewerten tendenziell zu Westparteien entwickeln. Umgekehrt dürfte die Linkspartei in den westlichen Bundesländern kaum mehr eine Rolle spielen. Das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) hingegen wird nach bisherigem Stand wohl nur in Landtage in Ostdeutschland sicher einziehen, wo die AfD wiederum fast doppelt so großen Zuspruch erhält wie im Westen.
Steffen Mau: „Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2024, 168 Seiten, 18 Euro
In ihrem neuen Buch „Ungleich vereint“ gehen Sie davon aus, dass sich ostdeutsche Eigenheiten in der Sozialstruktur, Demografie und politischen Kultur verstetigen werden. Wie begünstigt das den Erfolg von Rechtsextremen und Populisten?
Die schematische, für den Populismus charakteristische Trennung zwischen dem „authentischen Volk“ und „den Eliten“ ist in Ostdeutschland eine verbreitete Interpretation der Welt. Aufgrund der geringen Repräsentation von Ostdeutschen in der gesamtgesellschaftlichen Elite lässt sich diese Wahrnehmung allerdings nicht immer leicht entkräften. Zudem erhöhen bestimmte sozialstrukturelle und demografische Charakteristika die Wahrscheinlichkeit, die AfD zu wählen: so etwa die stärkere Verbreitung von einfachen beruflichen Abschlüssen, ein geringerer Bildungsgrad oder ein gesellschaftlicher Männerüberschuss. Insgesamt ist dies alles ist in Ostdeutschland stärker ausgeprägt.
Dazu kommt die Stärke von dezidiert rechten Milieus.
In Hannover mag eine Diskussion über eine „Brandmauer“ gegen rechts noch funktionieren. Aber in Sachsen etwa sind rechte Akteure und AfD-Wähler alltagsweltlich zu stark verankert. Es fällt vielen Menschen extrem schwer, Freunde, langjährige Kollegen oder Nachbarn politisch grundsätzlich zu kritisieren oder sogar sozial zu ächten. Auch die demokratische Zivilgesellschaft ist in Ostdeutschland schwächer ausgeprägt als in Westdeutschland.
Kann man das allein der DDR anlasten?
In der DDR gab es de facto keine Zivilgesellschaft. Der vorpolitische Raum wurde bespielt durch die Blockparteien, die Massenorganisationen und die volkseigenen Betriebe. Das alles ist 1989 zusammengebrochen. In diesem Vakuum war für rechtspopulistische Akteure anderes möglich als im Westen. Im Westen wären sie mit ihren Aktivitäten auf viel mehr Widerstand der demokratischen Zivilgesellschaft gestoßen. Noch immer existieren in Ostdeutschland weniger Stiftungen, Bildungs- und Jugendprojekte als in Westdeutschland. Auch die Vereine agieren dort weniger demokratisierend und gesellschaftsgestaltend, sondern viele beschränken sich auf Geselligkeit und Traditionspflege.
Zu jeder Pfadabhängigkeit gehört auch die Möglichkeit von Wendepunkten. Was braucht es, um der weiteren alltagsweltlichen Verankerung von Rechtsextremen und Populisten entgegenzuwirken?
Enorme mittel- und langfristige Lernprozesse. Die braucht es auch im Westen. Doch aufgrund der geringen Wahlbeteiligung und des niedrigeren Stellenwerts von politischen Parteien sind insbesondere im Osten andere Rezepte gefragt. Gerade dort müssen wir mehr politische Selbstwirksamkeit erzeugen. Die Einführung und Stärkung von Bürgerräten halte ich daher für eine interessante Idee: Ausgewählt über ein Losverfahren, setzen sich Bürger:innen über eine längeren Zeitraum und zusammen mit anderen mit politischen Fragestellungen auseinander und versuchen, konkrete Lösungsvorschläge auszuarbeiten.
Woher nehmen Sie den Optimismus, dass das angesichts der starken Verbreitung rechter und populistischer Einstellungen in Ostdeutschland – zumindest anfangs – nicht nach hinten losgeht?
Mein Optimismus ist gedämpft. Die Forschung zeigt aber, dass sich in solchen Foren mit klaren Spielregeln und wechselseitigem Respekt als anerkanntem Grundwert Einstellungen und Umgangsformen ein Stück weit ändern können. Extreme Positionen werden häufiger eingehegt und gemäßigt. Auch weil die im größeren gesellschaftlichen Diskurs häufig so stille Mitte solche Kontexte stärker prägt als die sonst so lauten Ränder. Ein weiterer Vorteil: Die Bürgerräte würden durch das Moment der politischen Mitwirkung den Vorwurf entkräften, „die da oben“ würden ohnehin nur machen, „was sie wollen“. Und warum nicht Bürgerräte als dritte Kammer einführen? In Ergänzung und unter Einbezug von Bundestag und Bundesrat, wo drängende Fragen wie die der Klimakrise verhandelt werden?
Haben Populisten wie das BSW die Forderung nach Bürgerräten schon mal aufgegriffen?
Mir ist das bislang nicht als dezidierte Positionierung bekannt, vermutlich gibt es aber keine klare Gegnerschaft. Generell pflegen Populisten aber die Vorstellung eines mehr oder weniger homogenen Volkes mit einem klaren Willen und einer authentischen Stimme. Bei den Bürgerräten geht es aber gerade nicht um reine Willensbekundung, sondern um Willensbildung in argumentativ offenen Prozessen der Deliberation. Dabei wird deutlich: Einen vorpolitischen und „authentischen Volkswillen“ gibt es nicht. Stattdessen werden Lernprozesse begünstigt. Meinungen und Präferenzen können sich ändern im Lichte von neuen Informationen und argumentativem Austausch. Das ist eine enorm wichtige politische und soziale Erfahrung.
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