Soziologe über Polizei in den USA: „Polizisten sind Gewaltarbeiter“
Die Polizei muss aus dem Alltag der Menschen rausgehalten werden, sagt Alex Vitale. Der Soziologe fordert zudem eine reduzierte Bewaffnung.
taz: Herr Vitale, warum ist die Polizei in den USA so brutal?
Alex Vitale: Polizisten sind überall Gewaltarbeiter. Die zusätzliche Gewalttätigkeit der amerikanischen Polizei im Verhältnis zu Europa hat historische Gründe. Der amerikanische Kolonialismus und die amerikanische Sklaverei haben zu Hause stattgefunden. Europa hat Kolonialismus und Sklaverei exportiert. Der amerikanische Kolonialismus war immer verknüpft mit Regimen von intensiver Ausbeutung. Aus denselben Gründen ist die amerikanische Gesellschaft auch gewalttätiger.
„Gewaltarbeiter“?
Die Polizei hat die Genehmigung, Gewalt einzusetzen. Es ist ein zentrales Element ihrer Arbeit. Und es ist sowohl durch ihre Ausbildung als auch durch das Gesetz abgestützt. Das unterscheidet die Polizei von allen anderen Teilen der Regierung.
Der Soziologe und Polizeiwissenschaftler leitet das „Policing and Racial Justice Project“ am Brooklyn College. Sein 2017 erschienenes Buch „The End of Policing“ ist wie eine Vorwegnahme der Diskussion, die seit dem Tod von George Floyd in den USA stattfindet.
Da ist aber das Militär. In den letzten Wochen wollten Politiker in den USA es immer wieder gegen Demonstranten einsetzen.
Es gab viel Gerede darüber. Und in einigen Fällen wurden auch Nationalgardisten benutzt. Aber das blieb eine extreme Ausnahme. Normalerweise wird das Militär nicht im Inneren eingesetzt. Das verhindern unsere Gesetze. Für Amerikaner ist die Polizei die einzige Behörde, die autorisiert ist, Gewalt auszuüben.
Wie kommt es, dass die Polizei in den USA auch in medizinischen und sozialen und schulischen Notfällen eingesetzt wird?
Unsere Politiker fühlen sich einer Austeritätspolitik verpflichtet. Diese Politik hat weite Teile des sozialen Netzes finanziell ausgehöhlt und stattdessen Subventionen an Teile der Wirtschaft umgeleitet, die ohnehin erfolgreich sind. Die Hoffnung ist, dass der Wohlstand unten ankommt (Trickle Down Effect). Stattdessen hat diese Austeritätspolitik massenhaft Probleme erzeugt wie Obdachlosigkeit, Nichtbehandlung psychisch Kranker, Drogenmissbrauch und Schulen, die versagen. Diese Probleme werden der Polizei übergeben. Nicht etwa, damit sie sie löst, sondern damit der Prozess von Einschnitten in soziale Dienstleistungen weitergehen kann.
Gab es einen Wendepunkt, an dem die USA begonnen haben, Sozialarbeit an die Polizei zu delegieren?
Der Beginn des „Drogenkriegs“ auf nationaler Ebene – der „War on Drugs“ unter Präsident Richard Nixon – spielte eine große Rolle. Damals machte die Bundesregierung die Strafverfolgung zu einer nationalen Sache. Damit wollte sie weiße Wähler in den Südstaaten ansprechen, die zuvor demokratisch gewählt hatten. Im Gefolge der Bürgerrechtsbewegung schürte sie Rassenfeindlichkeit, um neue Wähler für die Republikaner zu gewinnen. Damit begann der Prozess der Übergabe sozialer Probleme an die Polizei, an dem sich sowohl Demokraten als auch Republikaner beteiligten. Später folgten weitere Schritte: das Gesetz zur Verbrechensbekämpfung von 1994 [das unter Präsident Bill Clinton u. a. das Strafmaß für nicht gewalttätige Drogenvergehen drastisch erhöhte; Anm. d. Red.] und die Intensivierung der Anti-Terror-Polizeiarbeit nach 9/11.
Ist sanfte Polizeiarbeit in einer brutalen, kapitalistischen Gesellschaft möglich?
Wenn unsere Politiker der Polizei sagen: Führt Krieg gegen Verbrechen, Drogen, Gangs und Terror, dann geht das nicht sanft, freundlich und respektvoll ab, sondern es ergibt Gewalt. Und es bedeutet, dass die Probleme von armen und meist nichtweißen Communitys besonders betroffen sind. Die Lösung ist nicht, Polizisten zu Sozialarbeitern zu machen. Sondern so viele Probleme wie möglich in die Hände von anderen Institutionen statt in die der Polizei zu geben.
Wie lässt sich das in den USA schaffen?
Wir müssen damit anfangen, dass wir das Ausmaß der Polizeiarbeit reduzieren. Wir müssen die Polizei aus den Bereichen verdrängen, wo sie mit Problemschülern, Obdachlosen oder psychisch Kranken zu tun hat. Wir müssen die Polizei aus dem Alltagsleben der Leute herausholen, die Zahl der polizeilichen Interaktionen reduzieren. Als Nächstes müssen wir die militärische Bewaffnung reduzieren. Außerdem haben wir Tausende von paramilitärischen Polizeieinheiten, die mitten in der Nacht die Haustür von Leuten durchbrechen und Schießereien auslösen können. Das müssen wir beenden. Und dann müssen wir an die größeren Probleme von Amerikas gewalttätigem Erbe herangehen. Zum Glück schrumpft die Kriminalität insgesamt in den letzten 25 bis 35 Jahren deutlich. Wir brauchen mehr gemeindebasierte Antigewaltstrategien, das könnte die Kriminalität noch stärker zurückdrängen. Auch das würde unser Zugreifen auf die Polizei reduzieren.
Was sind gemeindebasierte Antigewaltstrategien?
Gewalt nimmt verschiedene Formen an – häusliche Gewalt, Jugendgewalt, Gewalt, die mit Schwarzmärkten wie Sexarbeit, Drogen und Kleinkriminalität zu tun hat. Wir brauchen verschiedene Strategien, um damit umzugehen. Für häusliche Gewalt brauchen wir Unterstützungen für Familien. Die Leute müssen jemanden außerhalb der Polizei haben, den sie in Krisen anrufen können. Für die Opfer häuslicher Gewalt brauchen wir mehr Wege, damit sie unabhängig von den Tätern leben können. Bei der Jugendgewalt brauchen wir glaubwürdige Leute aus dem Inneren der Communitys, die eine eigene Geschichte von Gewalt und Straßenleben haben und mit der jüngeren Generation arbeiten können, um den Zyklus von Gewalt zu durchbrechen.
Die Polizei in den USA ist lokal organisiert. Ist das hilfreich?
Wir haben mehr als 18.000 unabhängige Polizeibehörden. Das beschränkt die Möglichkeiten von Bundespolitik bei der Veränderung der Polizeiarbeit. Und das ist einer der Gründe, weswegen wir gerade Hunderte von dezentralisierten Kämpfen haben. Aber das Problem ist nicht die Abwesenheit nationaler Standards. Viele Bundesstaaten haben Standards. Und das macht nicht unbedingt einen Unterschied. Selbst wenn wir die Rolle und die Intensität von Polizeiarbeit bedeutend reduzieren, brauchen wir immer noch lokale Strategien. Denn die Herausforderungen für die öffentliche Sicherheit sind je nach Ort unterschiedlich.
Wieso braucht die Polizei in den USA Militärgeräte, die für Kriege in Übersee hergestellt werden?
Das ist eine lange Geschichte. Es gab schon im Ersten Weltkrieg eine starke Zunahme der Polizeiarbeit. Aber in der modernen Ära beginnt das in den 90er Jahren und es ist eng verknüpft mit dem Krieg gegen Drogen. In den 60er und 70er Jahren haben wir Einsatzkommandos mit Spezialwaffen bekommen. Es war eine Strategie, radikalere politische Bewegungen zu kontrollieren, und war zum Teil eine Antwort auf militante schwarze Befreiungsbewegungen wie die Black Panthers und die Black Liberation Army. Aber es bietet der Bundesregierung zugleich eine Möglichkeit, den Rüstungsunternehmen einen großen heimischen Markt zu verschaffen. Nach 9/11 wurde das besonders deutlich. Danach gab es Subventionen in Form von militärischen Geräten für Polizeieinheiten an Orten, an denen es keine Terrorismusdrohung gab. Omaha in Nebraska zum Beispiel und ländliche Gemeinden in Idaho brauchen kein Geld für landminenresistente Vehikel.
Ein Blick in die Zukunft: Wie sollte die Polizei in den USA im Jahr 2025 aussehen?
Die Hoffnung vieler ist, dass wir es schaffen, die Ausgaben für die Polizei bedeutend – etwa um 50 Prozent – zu reduzieren. Wenn die Gelder statt an die Polizei an gemeindebasierte Institutionen gehen, können die Communitys sicherer werden, als sie es heute sind. Um das zu schaffen, muss die aktuelle Bewegung weitergehen.
Auch in den großen Städten, wo Demokraten regieren, ist es aber so, dass die Bürgermeister zwar im Wahlkampf von mehr Kontrolle und weniger Geld für die Polizei reden, aber nach ihrer Wahl den Polizeihaushalt aufstocken. Wo sind die politischen Alliierten für die Forderung nach radikalen Veränderungen bei der Polizei?
Die Politik in diesem Bereich verschiebt sich gerade. Es gibt noch jede Menge zu tun, um eine Mehrheit zu bekommen. Aber wenn wir auf der Nachbarschaftsebene überzeugen können, dass wir bessere Ideen für die öffentliche Sicherheit haben als die bewaffnete Polizei, können wir auch Stadträte und Bürgermeister gewinnen.
Sehen Sie Länder, die den richtigen Weg mit ihrer Polizei gegangen sind?
Niemand hat das komplett überdacht. Aber Portugal hat die Drogen entkriminalisiert und die Polizei aus diesem Bereich abgezogen. Neuseeland hat die Sexarbeit legalisiert. Und Europa hat keine Polizei an Schulen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu
Wanted wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Gespräche in Israel über Waffenruhe
Größere Chance auf Annexion als auf Frieden
Krieg in der Ukraine
USA will Ukraine Anti-Personen-Minen liefern