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Soziologe über Gewalt unter Jugendlichen„Messer sorgen für Respekt“

Nach Lünen und Berlin nun Flensburg: Wieder wurde ein Jugendlicher Opfer einer Attacke. Soziologe Dirk Baier zu der Frage, warum Teenager sich bewaffnen.

Polizei und Jugendliche hinter einer Polizeiabsperrung auf einem Schulhof in Lünen (NRW) nach einer Messerattacke im Januar 2018 Foto: dpa
Interview von Sebastian Kränzle

taz: Nach der Messerattacke von Berlin Anfang März ereignete sich jetzt in Flensburg wieder ein Fall, bei dem eine Minderjährige von einem Jugendlichen getötet wurde. Gibt es eine Zunahme solcher Angriffe?

Dirk Baier: Wenn man die nackten Zahlen der Fälle von schwerer Gewalt bei Jugendlichen betrachtet, so kann man in den letzten Jahre keinen Anstieg beobachten. Die Zahlen sind stabil oder sogar rückläufig, es handelt sich momentan eher um eine zufällige Häufung.

Woher kommt der Eindruck, solche Attacken nähmen zu?

Das liegt meines Erachtens an der medialen Fokussierung auf das Thema, denn innerhalb kurzer Zeit wurde viel über diese Fälle berichtet. Menschen versuchen immer einen Sinn zu finden und Dinge miteinander in Beziehung zu setzen – auch wenn diese eigentlich gar nichts miteinander zu tun haben.

Die Tatbeschreibungen ähneln sich. Handelt es sich eventuell um Nachahmungstäter?

Aus der Forschung über schwere Gewalt wissen wir, dass es einen Effekt hat, wenn Jugendliche sehen, wie andere Jugendliche ihre Probleme lösen. Die Berichterstattung ist zweifellos gerechtfertigt, gleichzeitig kann dies aber auch Jugendliche ansprechen, die in ähnlichen Situationen stecken. Ich habe die Sorge, dass es sich negativ auswirkt, wenn einzelne Ereignisse eine so intensive Berichterstattung erfahren. Nicht umsonst gibt es die Selbstverpflichtung der Medien, über Selbstmorde nicht explizit zu berichten.

Warum trugen die Jugendlichen Waffen?

Wir beobachten bei männlichen Jugendlichen einen Trend, Messer mit sich zu führen. Das hat zweierlei Gründe. Erstens gibt ihnen das ein gewisses Gefühl von Sicherheit – dahinter steckt die Idee, sich bei Gefahr schützen zu können. Außerdem sorgt es für Respekt und Anerkennung im Freundeskreis, wenn man ein Messer mit sich trägt. Das hat viel mit dem Ideal der Männlichkeit zu tun.

In einem großen Teil der Fälle hatten die Täter einen Migrationshintergrund. Sind solche Jugendliche besonders gefährdet, zum Täter zu werden?

Im Interview: Dirk Baier

ist Soziologe und seit 2015 Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und forscht unter anderem zu Jugendkriminalität.

Bei Jugendlichen mit türkischem oder arabischem Hintergrund stellen wir eine starke Orientierung an sogenannten Männlichkeitsnormen fest. Diese beinhalten, dass man als Mann auf die eigene Ehre und die der Familie achten muss, dass man hierfür auch Gewalt einsetzen darf. Aber zweifelsohne gibt es auch sozial schwache deutsche Milieus, in denen ein ähnliches Ideal der Männlichkeit vermittelt wird.

Das heißt, es kommt mehr darauf an, welche Vorstellungen von Männlichkeit bei den Jugendlichen vorherrschen?

Ja, denn eine starke Orientierung an Männlichkeit geht auch mit einer stärkeren Affinität zu Waffen einher. Das Tragen von Messern ist daher in einigen kulturellen Milieus weiter verbreitet. In emotional stressigen Situationen ist dann die Wahrscheinlichkeit höher, dass Messer eingesetzt werden und die Beteiligten schwer verletzt oder gar getötet werden. Männlichkeitsorientierungen und Waffenverfügbarkeit gehen in diesen Fällen eine unheilvolle Allianz ein.

Der verurteilte Täter aus Hamburg-Barmbek wird viele Jahre im Gefängnis sitzen. Was passiert mit Jugendlichen, die schon so früh in ihrem Leben eine Gewalttat verübt haben? Besteht dort eine hohe Gefahr, dass sie als Erwachsene rückfällig werden?

Jugendliche befinden sich auch neurologisch gesehen in einer Phase des Wandels. Wenn sie in jüngeren Jahren eine Gewalttat begehen, können sie als Erwachsene ohne Weiteres ein normkonformes Verhalten an den Tag legen. Eine frühe Auffälligkeit bedeutet noch keine lebenslange Auffälligkeit. Aber daran muss intensiv gearbeitet werden. Haftstrafen machen in diesen Situationen tatsächlich Sinn – wenn die Täter dabei eng psychologisch begleitet werden.

Welche Präventionsmaßnahmen gibt es und was scheint Ihnen speziell an Schulen ein geeigneter Ansatz, um solche Taten zu verhindern?

Die Schulen beschäftigen sich bereits seit vielen Jahren mit Gewaltprävention. Das Thema Waffen hat dabei in den letzten Jahren allerdings keine Rolle gespielt. Hier müssen wir in den Dialog gehen und fragen: Warum tragen Jugendliche Waffen? Was hat das mit Männlichkeit zu tun? Es tut zwar weh, den Schulen auch noch diese Aufgabe aufzutragen. Aber gerade dort passiert so viel, an den Schulen können wir Jugendliche aus allen Milieus erreichen. Wir müssen darüber reden, wie Jugendliche Anerkennung erhalten. Und was es heißt, ein Mann zu sein ohne dafür Waffen tragen zu müssen.

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4 Kommentare

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  • Gemach. Gemach.

     

    Wenn ich's recht erinner - wurde die Kollegin Familienrichterin - in Kiel stellvertretend gar - für eine Kinder betreffende Entscheidung - vom Vater mit einem Messer umgebracht!

    &

    Seh das wippende Stilett im Bauch eines im Nieselregen - weißes Hemd schwarze Hose - liegenden Mannes in der Nähe eines Krankenhauses.

    Meine damalige Frau - Notärztin -

    "Profis - Kellnermilieu - sauberer Denkzettel!

     

    Ok. Die Jugend. An einer Wand hängt ein ironisches Geschenk. Noch in der Schachtel. Sieht aus wie ein altes Rasiermesser - wie ein Stilett!

    Läßt du es Aufschnacken - däh - ist es ein Stielkamm!

    Insider wissen - "stand's wie Frankie wiegend in den Knien" - naja. - die Milchreisbubis - "keine Haare am Sack - abern Kamm in der Tasche" - in ihren Röhren - aber "kein Arsch in der Hose" vorm Spiegel - bemüht - Entenarsch-Elvis-Tolle - zu kleistern!

    &

    Die Stiletts - waren da - veränderten den Umgang & - wurden so ironisch gebrochen "Ey Typ - pass auf!" &

    Schnack ~> Gelächter! Schonn!

     

    Aber auch die Loddel/Zuhälter-Szene -

    "Beschwerte" - etwa zeitgleich über Messer Waffeneinsatz!

    Loddel - "Schäfers Nas" - in Kölle z.B.

    Die Taxifahrerei 70er+ - war damals selbst dabei - wurde gefährlich ~>

    Die meisten hatten "irgendwas" -

    Gurke Messer etc unterm Sitz. Woll. "Mietwagen" ~> Ausweichjob für "enne von denne "Messesteschee"! (Weil kein Taxischein erforderlich!)

    &. ~>

    Die Milieus - die Codes - etc - wurden/werden(?) aggressiver

    &

    Sind soweit nicht voneinander entfernt - ja eher sogar wohl gerade nicht!

    &

    Jugendliche sind neugierig & "was verboten ist - das macht uns grade scharf". Wollnichwoll!

     

    So jet. Mal zu bedenken gegeben.

  • 6G
    61321 (Profil gelöscht)

    Da es die taz beim "MeinesErachtens" des Herrn Baier bewenden lässt, müssen wir wohl woanders nachzuforschen versuchen, um herauszufinden was los ist.

     

    Wenn denn etwas los ist.

     

    Bin mein Leben lang mit Messer in der Tasche rumgelaufen. Als Jungspund völlig normal im Milieu - auf dem Bau, in der Natur, beim Umgang mit gehaltenen Tieren (Strohschnüre durchschneiden und dergleichen). Niemals hätte ein Kumpel sein Messer als Waffe angesehen und damit rumgefuchtelt.

    Habe Alkoholexzesse gesehen und Schlägereien, oder den Verlauf und Ausgang einer Prügelei von den Kumpels lebhaft geschildert bekommen.

    Auch hier - niemals hat und niemals hätte einer sein Messer im Konflikt gezogen. Wenn, dann höchstens mal der besoffene Griff nach einer leeren Flasche oder einem Stuhl.

    Weiter wurde im weitesten Umfeld niemals ein Beziehungs-Konflikt mit Messer "gelöst". Auch nicht bei unseren türkischen Mitbürgern, derer nicht zu wenige waren. Kann mich nicht an derartige Berichte aus unserer mittleren Stadt damals erinnern.

    War da grundsätzlich was anders? Mal nur so rein quantitativ zunächst mal?

     

    Herr Baier, leben wir im selben Land und in der selben Zeit? Oder bin ich ein Opfer meiner täglichen Zeitungslektüre, weil sich gerade alle Gazetten auf diese Geschichten stürzen?

  • Ok - denn mal aus der Kiste - Eigenbräu!

     

    Trage als gerade noch Kriegskind - fast von

    Kindesbeinen an - bis heute - immer n Messer inne Däsch!

    Wie übrigens ming Ohl*03 - Bauernkind - auch zeitlebens.

    Bei allen Cousins etc - Stein im Brett - da er verläßlich zur

    Konfirmation o.ä. ein "euliches" Messer schenkte!

     

    Stehende Messer - "fand" meine kripoerfahrene exFürsorgerinMutter -

    Nur weg!;) wenn sie diese - Zweifachschliff etc - für zu gefährlich hielt.

    Ohnehin - der Übergang zum Handwerkszeug - eher fließend.

     

    Generation - Trümmerkinder - wie mein älterer Bruder -

    Kannte ich nicht ohne Messer. Ja.

     

    But. "Gebrauch" - war grundsätzlich verpönt!

    Fäuste - Klopperei etc - Mittel der Wahl.

    Mein Bruder flog von der Schule - als er -

    Von Mitschüler mit Schal stranguliert - zum Messer griff!

    &

    Stiletts etc galten als fiese Waffe.

    Kamen aber einschl. Drohung & plus - (erst) in den 60ern auf!

    &

    Heute. Mein Jüngster - kurz vor Abi - auf Tour in Kölle.

    Wird mit nem Kumpel auf ner Bank sitzend.

    Von zwei Jugendlichen angemacht! Kriegen - "eine Gewischt!"

    Beide nich von Pappe - Vadder "Ja wie? - Nix??"

    "Nö - heute weißte echt nicht - ob nicht plötzlich n

    Messer mit im Spiel ist! Einfach zu gefährlich. In Aachen wie in Köln!

    Zurückpöbeln & gut is!"

    &

    Daß nem Jugendlichen - schon mal n Würgholz aus der Jacke fällt.

    Konnt ich nicht nur einmal beobachten!

     

    kurz - Glaub schon - daß das Einschätzung von

    Herrn Dirk Baier klar geht!

  • "Das liegt meines Erachtens an der medialen Fokussierung auf das Thema,"

    Das denke ich auf keinen FAll. Das innerhalb so kurzer Zeit drei Mädchen von ihren Freunden, - abgestochen wurden, habe ich seit Jahrzehnten nicht mehr in der Zeitung gelesen. Und jeder weiss, -dass so etwas immer in der BILD veröffentlicht wird.

    Ansonsten ein guter Artikel, der auch den Migrationshintergrund wertfrei hinterfragt. danke