Soziologe über Ausbeutung im Job: „Gewerkschaftliche Macht nimmt ab“
Gewerkschaften und Betriebsräte stehen unter Druck. Der Soziologe Klaus Dörre über die problematischen Machtverhältnisse in der Arbeitswelt.
taz: Herr Dörre, in welcher Lage befinden sich Gewerkschaften, Betriebsräte und aktive Arbeiter:innen heute?
Klaus Dörre: Wir verzeichnen eine Abnahme gewerkschaftlicher Organisationsmacht, die nicht nur den Organisationsgrad umfasst, sondern auch die Zahl der Aktiven, die bereit sind, in Konflikte zu ziehen. Wir haben eine Erosion der institutionellen Macht, also immer weniger abhängig Beschäftigte, die unter einen Tarifvertrag fallen. Die Zahl der Betriebe mit Mitbestimmung geht deutlich zurück.
ist 65 Jahre alt und Professor für Arbeits, Industrie und Wirtschaftssoziologie an der Friedrich Schiller Universität in Jena.
Das verteilt sich auf zwei Welten von Arbeitsbeziehungen: einen schrumpfenden Sektor, in dem es noch Tarifverträge und geregelte Mitbestimmung durch Betriebsräte gibt, wo Gewerkschaften noch vergleichsweise hohe Sozialstandards durchsetzen können. Das gilt vor allem für die großen Unternehmen der Automobilindustrie, die Systemzulieferer, den öffentlichen Dienst und die Chemieindustrie.
Andererseits haben wir eine expandierende zweite Welt, wo das alles so nicht mehr gilt. Das galt auch noch nie für die IT-Branche, für viele personenbezogene Dienstleistungen sowie kleine und mittlere Unternehmen oder Handwerksbetriebe.
Welche Rolle spielt dabei Union Busting oder die Behinderung von Betriebsräten?
In die beschriebene Lücke stoßen militante Arbeitgeber und ihre Anwaltskanzleien. Die sind weder im Geist der Sozialpartnerschaft sozialisiert, noch wollen sie wissen, dass sozialer Friede eine Produktivkraft ist. Geschäftsführungen von Amazon oder Zalando, aber selbst das Top-Management der Deutschen Post handeln nach harten Profitkriterien.
Da gibt es die Vorstellung, dass Gewerkschaften ein Auslaufmodell sind. Diese Grundhaltung wird übersetzt in: „Wenn sie schon ein Auslaufmodell sind, dann nutzen wir die Gelegenheit und schaffen sie uns vom Hals.“ Dagegen anzugehen ist schwierig, weil man den sogenannten Häuserkampf von Betrieb zu Betrieb führt.
Oft geht es darum, überhaupt erst einmal Standards wie einen arbeitsfähigen Betriebsrat durchzusetzen. Das ist anspruchsvoll, weil Gewerkschaftsarbeit immer wieder neu anfangen muss, mobilisierungsfähig werden muss, und das geht nicht, ohne dass das im Betrieb, im Büro in der Verwaltung Aktive vorantreiben.
Wie ließe sich die Entwicklung der Machtverhältnisse wenden?
Die Zeiten, in denen Gewerkschaftssekretäre stellvertretend verhandeln, sind vorbei. Der entscheidende Punkt ist, dass die Beschäftigten es nach wie vor selbst in der Hand haben. Dafür müssen sie aktiv werden, ihre Interessen und Freiheiten solidarisch mit anderen durchsetzen und erkämpfen.
Wo finden sich Lichtblicke im Sinne der Beschäftigten?
Zum Beispiel im Streik an den Unikliniken in NRW. Verdi hat dort mit dem Einfluss auf die Personalbemessung faktisch ins Direktionsrecht eingegriffen. Wie viel Personal man braucht oder wen man einstellt, oblag bis dahin immer nur dem Management. Hier hat Verdi mit einem Erzwingungsstreik die Mitbestimmung auf zuvor entscheidungsverschlossene Bereiche ausgeweitet.
Oft sind es aber weniger spektakuläre Alltagsbeispiele. Der langjährige Betriebsratsvorsitzende von VW im hessischen Baunatal, Carsten Bätzold, hat sich offen gegen das dominante Geschäftsmodell der Automobilindustrie positioniert. Es sei weder sozial noch ökologisch nachhaltig. Trotz der 7.000 bedrohten Arbeitsplätze wurde er mit über 90 Prozent wiedergewählt, weil er sich als authentischer Interessenvertreter engagiert und glaubwürdig nach Alternativen sucht.
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